Autor Jürgen Beckers Die Erinnerung herausfordern

Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt." So lakonisch beginnt Jürgen Beckers neuer Journalroman, dessen Held einem aus drei vorherigen Werken äußerst vertraut ist. Jörn Winter aber, so warnt der Verfasser, ist bei allem Doppelgängeranschein doch "kein Spiegelbild" des Autors, sondern ein Alter ego im Wortsinn: ein anderes Ich.

 Er erforscht das Wesen des Gedächtnisses: Jürgen Becker in seinem Garten in Odenthal.

Er erforscht das Wesen des Gedächtnisses: Jürgen Becker in seinem Garten in Odenthal.

Foto: dpa

Gewiss, wie Jürgen wurde der siebenjährige Jörn 1939 aus seiner Geburtsstadt Köln nach Thüringen gebracht, "der erste Riss in seinem Leben".

Als er 1947 zuerst nach Waldbröl, später nach Köln zurückkehrte, war er der Außenseiter aus der Ostzone. Weitere Risse und Schnitte folgten: der Tod der Mutter, der Mord an der Stiefmutter, eine Scheidung, nach der er sich seinem Sohn gegenüber selbstkritisch sieht: "der Vater, der seinen Auftrag versäumt hat".

Trotz solcher Weg- und Wendemarken wird hier kein biografischer Parcours abgeschritten. Wie schon der Titel "Jetzt die Gegend damals" verrät, geht es um die Gegenwart des Vergangenen, das gegenseitige Durchdringen von Innen- und Außenwelt.

Kaum jemand reflektiert so scharfsinnig über das Wesen des Gedächtnisses wie der Büchner-Preisträger des Vorjahrs. Er will statt abgegriffener Bilder eine "Erinnerung, die vergisst, was sie alles schon kennt".

Wie das geht? Da bekommt Jörn nach einem Wespenstich von seiner Frau Lene eine Pflanze in den Nacken gedrückt - und schon zieht das lange nicht mehr gehörte Wort Huflattich eine Assoziationskette aus dem Dunkel des Halbvergessenen: Plötzlich ist der Krieg wieder da und das Sammeln von Heilkräutern für die verwundeten Soldaten.

Vieles ist noch präsent: das Nachbarsmädchen, das beim Skiunfall den linken Fuß verlor, oder die kleine Erika, die ihn immer auf dem Schulweg abholte. Manche Szenen malt Becker bis in kleinste Details aus, etwa die große Freiheit, die der kleine Jörn hoch im Birnbaum der Großmutter spürte. Manchmal genügt ihm aber auch eine aphoristische Zeile: "Als der Milchmann nicht mehr kam, hörte auch die Kindheit auf."

Gegen Sentimentalität ist Jürgen Beckers Prosa-Skalpell sterilisiert, und deshalb gleitet es so präzis durch all die feinen Schichten und Häutchen eines mehr als 80-jährigen Lebens. Die 50er und frühen 60er als Kölns kulturelle Aufbruchsjahre blitzen schlaglichtartig auf, dazwischen immer wieder ebenso spröde wie sinnliche Wetter- und Landschaftsbeobachtungen vom Oderbruch bis nach Ostende. Und natürlich der aktuelle Lebensspagat zwischen dem (rechtsrheinischen) Kölner Stadtrand und dem Bergischen Land.

Jörn weiß noch, wie er mit Nora in den 50er Jahren nach Paris trampte und von einem französischen Ehepaar mit dem Peugeot mitgenommen wurde. Doch vor der Einladung ins Bistro jenseits der Grenze "bat Monsieur, nicht mehr deutsch zu sprechen, es gebe in der Gegend hier noch ein paar ungute Erinnerungen." Und heute? Fremdelt Jörn mit Lenes Idee der Griechenlandreise. "Ich habe keine Lust, wieder mit einem schlechten Gewissen herumlaufen zu müssen, wegen der Herkunft aus einem Land, dem man doch die ganze Misere in die Schuhe schiebt." Er fährt dann doch mit, und sein Bild der Krise bleibt diffus.

"Was alles nicht mehr da ist..." kommt in diesem "Inventar der Verluste" freilich auch zur Sprache. Die Bahnsteigkarte - abgeschafft; das Kinderspielzeug - irgendwo unterwegs verloren. Kann man ein ganzes Leben authentisch beschreiben? Jörn zweifelt, denn dazu fallen ihm "immer bloß Sätze ein, manchmal nur noch einzelne, manchmal ein paar mehr". Jörn Winter ist ganz nebenbei auch ein genialer Tiefstapler.

Jürgen Becker: Jetzt die Gegend damals. Journalroman, Suhrkamp, 162 S., 19,95 Euro.

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