Interview mit Sozialdezernentin Angelika Maria Wahrheit "Mein Herz schlägt links"

Acht Jahre lang hat Angelika Maria Wahrheit das Dezernat für Kinder, Jugend, Familie, Schule und Soziales geleitet. Ihre Amtszeit endet im Januar, die Ratsmehrheit hat ihre Wiederwahl ausgeschlossen. Ihr Büro im Alten Rathaus räumt die 58-Jährige allerdings schon an diesem Freitag, weil sie noch Resturlaub hat.

 Geht nach acht Jahren: Angelika Maria Wahrheit.

Geht nach acht Jahren: Angelika Maria Wahrheit.

Foto: Horst Müller

Mit Wahrheit sprach Lisa Inhoffen.

Der Stadtrat hat Sie Ende Januar 2016 mit 58 Jahren in den Ruhestand geschickt. Ist das nicht ein bisschen früh?
Wahrheit: In der Demokratie entscheiden Mehrheiten und damit lebt jeder, der ein Wahlamt inne hat. Es gibt einen Spruch, der sagt, Mehrheit entscheidet sich nicht immer für die Wahrheit. Das trifft ja in meinem Fall auch zu (lacht). Wie gesagt, die Entscheidung gehört zu den demokratischen Rechten eines Rates und damit hat man dann auch umzugehen.

Wie erklären Sie sich die Entscheidung, dass der Rat Sie nicht wiederwählen wollte?
Wahrheit: Die Interpretation der Entscheidung ist eher Ihre Aufgabe, dazu äußere ich mich nicht. Mich kann man an meiner Arbeit in den vergangenen acht Jahren messen.

Was waren in Ihrer Wahlzeit für Sie die schwierigsten Aufgaben?
Wahrheit: Einer der schwierigsten Momente für mich war sicherlich der, als ich entscheiden musste, das Seniorenheim Haus Dottendorf räumen zu lassen, vor allem, weil ja ganz unmittelbar viele Menschen in ihrer letzten Lebensphase davon betroffen waren. Wir hatten aber wegen der massiven Pflegemängel in dem Heim keine andere Wahl.

Wovon war Ihre Arbeit besonders geprägt?
Wahrheit: Ich glaube, sie war vor allem dadurch geprägt, dass in dieser Zeit wichtige Umbruchprozesse eingeleitet worden sind. Einer war sicherlich die Orientierung hin zu Inklusion. Der Prozess betrifft weite Teile der Stadtgesellschaft, zunächst aber vor allem die Schulen.

Finden Sie den Begriff Inklusion eigentlich gut?
Wahrheit: Nein, nicht wirklich, Ich habe aber auch keine Idee, welchen anderen Begriff wir dafür nehmen könnten. Inklusion bedeutet ja die Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben, es geht also weit über die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen hinaus. Dafür gibt es kein gutes deutsches Wort.

Wie erfolgreich ist Inklusion in Bonn?
Wahrheit: Wir sehen gute Fortschritte zum Beispiel für Familien mit behinderten Kindern. Diese Kinder können jetzt eher gemeinsam mit anderen Kindern Regelschulen besuchen. Das ist aber kein Prozess, der abgeschlossen ist. Es gibt immer noch viele Ängste und Befürchtungen, etwa bei Eltern, die sich sorgen, ob ihr Kind genügend gefördert wird. Ich würde sagen, der Prozess ist erst angestoßen.

Welche Ereignisse in Ihrem Arbeitsgebiet waren für Sie wichtig?
Wahrheit: Die Gründungen der vierten und fünften Gesamtschule in Bonn gehören sicherlich dazu.

Braucht Bonn noch weitere Gesamtschulen?
Wahrheit: Ja, ich denke, es würde der Bundes- und UNO-Stadt Bonn gut anstehen, wenn sie noch eine öffentliche internationale Gesamtschule einrichten würde, die alle international anerkannten Abschlüsse anbietet.

Ist die Offene Ganztagsschule, wie die Träger Ihnen seit langem vorwerfen, unterfinanziert?
Wahrheit: Diese Frage lässt sich so einfach nicht beantworten. Aber rein im Vergleich zu anderen Städten in NRW sage ich eher: Nein!

Das Thema Flüchtlinge bestimmt zurzeit auch in Bonn die politische Diskussion.
Wahrheit: Unsere Aufgabe als Kommune ist es, zunächst für eine gute Unterbringung der Flüchtlinge zu sorgen. Wenn wir dann aber über deren Integration, über Kindergarten- und Schulplätze, über Wohnungen sprechen, dann ist es wichtig zu sagen: Es geht um Wohnungen für alle Bonnerinnen und Bonner, Kitaplätze für alle Kinder und so weiter. Das ist wichtig für den sozialen Frieden in der Stadt. Niemand darf das Gefühl bekommen, ihm würde etwas weggenommen. Für mich sind die Flüchtlinge kein "neues Problem", sondern durch sie wird deutlich, wo in der Stadt für viele Bürgerinnen und Bürger noch Mangel herrscht: bezahlbare Wohnungen, OGS-Plätze für alle, die einen möchten, und so weiter.

Hat Bonn für diese Aufgabe genügend Personal?
Wahrheit: Nein, so wie keine Stadt im Land. Wir brauchen mehr Personal, wenn wir diese Herausforderung auf Dauer gut bewältigen wollen. Nur Zusammenrücken reicht nicht. Das würde bedeuten, dass andere wichtige Aufgaben dann liegen bleiben.

Stichwort Wohnungen. Da ist ja in der Vergangenheit nicht viel passiert. Warum nicht?
Wahrheit: Bei der Zweckentfremdungssatzung gab es für unseren Vorschlag eine Mehrheit im Rat, aber bei der Frage des Wohnungsbaus sind wir leider nicht soweit, wie wir sein könnten, weil zu viele Interessen konkurrieren."

GA: Worauf sind Sie stolz?
Wahrheit: Stolz ist kein Gefühl, was ich empfinde. Aber ich freue mich über Ergebnisse. Ich freue mich etwa über die neuen Gesamtschulen. Oder darüber, dass wir in der Verwaltung einen Arbeitskreis für Flüchtlinge über die Dezernatsgrenzen hinaus gegründet haben, der sich als tatkräftig erwiesen hat. Ich freue mich, dass wir mit dem Rat erreicht haben, dass die Heroinambulanz nicht geschlossen wurde, dass es eine Krankenkassenkarte für Flüchtlinge geben wird, der Bonn-Ausweis trotz schlechter Haushaltslage nicht abgeschafft wurde und wir in beachtlicher Zahl die Kita- und OGS-Plätze ausgebaut haben.

Wie sehen Sie die Pläne der Ratskoalition, zuerst das Superdezernat Umwelt und Planung neu zu besetzen und die offizielle Nachfolge für Ihr Dezernat erst im nächsten Herbst zu regeln?
Wahrheit: Eine Dezernentin oder einen Dezernenten nicht wiederzuwählen, das ist eine Sache. Aber ein großes Dezernat, das in einer Stadt zuständig ist für Kinder, Jugend, Familie, Schule, Soziales, Wohnen... Flüchtlinge - auf eine längere Strecke führungslos zu lassen beziehungsweise fachfremd mit vertreten zu lassen, das ist eine andere Sache.

GA: Sie gelten als SPD-nah. Manche Fraktionsmitglieder der SPD verübeln Ihnen, dass Sie nie Parteimitglied geworden sind, obwohl Sie dank der SPD Karriere gemacht hätten. Warum sind Sie nicht in die SPD eingetreten?
Wahrheit: Der Eintritt in eine Partei ist eine ganz persönliche Entscheidung. Ich muss nicht begründen, warum ich nicht in die SPD eingetreten bin. Meine Haltung war immer klar: Das Herz einer Sozialdezernentin, also mein Herz, schlägt links.

GA: Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Wahrheit: Ab Ende Januar bin ich - zunächst einmal - Privatperson.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Der Macke vom Müll
Neue Folge des Crime-Podcasts „Akte Rheinland“ Der Macke vom Müll
Zum Thema
Aus dem Ressort