Neue Veteranen "Leben oder sterben - jetzt!"

Christian Bernhardt war früher ein richtig guter Leichtathlet. Er war auch ein richtig guter Soldat, einer, der es toll fand, dass Sport im Dienstplan stand, der Drill für selbstverständlich und lebensrettend hielt. Als der Irak-Krieg 2003 losging, war das seine Chance: Endlich ein echter Einsatz, nicht immer nur Training für den Ernstfall. Er meldete sich freiwillig, um ein ABC-Abwehrbatallion aus Höxter nach Kuwait zu begleiten.

Christian Bernhardt, fast zwei Meter groß, kräftig, war keiner, der sich wegduckte. Heute ist er schon froh, wenn er es an guten Tagen aus dem Haus schafft.

Der Einsatz hat ihn traumatisiert - und zum traurigen Pionier einer neuen, sozialen Gruppe gemacht: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es wieder Veteranen in Deutschland. Ihre Zahl steigt rapide mit den Aufgaben, die die Bundeswehr im Ausland übernimmt. Doch mit den Einsatzfolgen, besonders den seelischen Verwundungen der Soldaten, sind Streitkräfte, Politik und Zivilgesellschaft oft überfordert.

Es ist der 20. März 2003, der Tag, nachdem US-Präsident George W. Bush die Irak-Invasion anrollen lässt, als Stabsunteroffizier Bernhardt in eine Maschine der Luftwaffe steigt. Ziel: Kuwait Airport. Auf dem Weg zum Flughafen Köln-Wahn hatte der Bus kurz an einer Tankstelle Rast gemacht.

Bernhardt sah dort auf den Titelseiten der Zeitungen die Bilder vom Angriff auf den Irak. "Der Krieg hatte begonnen, und wir waren auf dem Weg dorthin, das hatte etwas sehr Unwirkliches", erinnert er sich. Von Angst keine Spur, im Gegenteil. Bernhardt geht oft ausgesprochen analytisch an Situationen heran. Er spricht dann von "einer Lage".

Und in dem Fall sah er die Lage so: "Camp Doha, wo wir untergebracht werden sollten, lag 80 Kilometer vom Irak weg. Aufmarschgebiet, okay. Im Flugzeug saßen nur Soldaten, von denen ich wusste, dass sie top ausgebildet waren. Wir hatten alle mit Kampfgasen in Übungsräumen trainiert. Wir waren fit. Ich fühlte mich sicher."

Saddam Husseins angeblicher Besitz von Chemiewaffen erweist sich sehr viel später als eine der größten Fehleinschätzungen dieses Krieges, doch zu dem Zeitpunkt stehen alle unter dem Eindruck einer realen Bedrohung.

Die Truppe wird in einen Bus verfrachtet, die Fenster sind verhängt, damit sie nicht schon auf dem Weg ins Camp zur Zielscheibe für Attentäter werden. "Dann hält der Bus auf freier Strecke", erinnert er sich, "die Gegend steht unter Raketenbeschuss der Iraker." Bernhardt überlegt fieberhaft, denn die luftdichten Schutzanzüge lagern im Gepäckanhänger hinter dem Bus.

Keiner darf seinen Platz verlassen. Der Bus steht für den Feind wie auf dem Präsentierteller geparkt. "Alles in dir schreit: Beweg dich! Such dir Schutz!", sagt er. Er drückt die Todesangst weg; rational weiß er, dass Soldaten sich im Einsatz keine Angst leisten können. Sie kostet wertvolle Sekunden und damit Menschenleben: "Deshalb gibt es ja Befehl und Gehorsam: Er spart dir Zeit zum Nachdenken."

Irgendwann fährt der Bus weiter, es ist nichts passiert. "Aber ich weiß heute noch, wo ich gesessen hab': vorletzte Reihe, links." Seit jenem Tag fährt er nicht mehr Bus: "Das frisst zu viel Energie."

Die erste Woche, die Bernhardt in Kuwait verbringt, liegt Camp Doha unter Dauerfeuer der irakischen Streitkräfte. So lange sie können, halten sie der US-Armee stand und versuchen das Camp auszulöschen. Bernhardt muss seine Lageeinschätzung aktualisieren: "Aus Camp Doha wurde die gesamte Bodenoffensive der US-Truppen geführt, es war sozusagen ihr Auge vor Ort."

13 Anschläge mit Scud-Raketen ereignen sich im Aufmarschgebiet, die Trümmerteile fliegen bis auf die Wellblechdächer des Camps. Dort liegen die Bundeswehr-Soldaten zu Dutzenden in einer ungeschützten Lagerhalle, ständig die Atemschutzmaske in der Hand, bei jedem Sirenenheulen rennen sie in provisorische Bunker.

"Doch es gibt mehr Soldaten als Plätze im Bunker", sagt Bernhardt. Für die Letzten heißt es also bei Beschuss: Zurück zur Lagerhalle, an der Wand kauern, und womöglich von einer Rakete erwischt werden. "Das Gefühl war immer: Leben oder sterben - jetzt!", sagt er.

Seine ABC-Maske passt ihm nicht einmal - und geeigneter Ersatz bleibt aus. Er verbringt seine Zeit damit, Wüstensand aus Satellitentechnik zu entfernen oder vor den Toren des schützenden Camps Sandsäcke zu befüllen: eine laufende Zielscheibe.

Nachts schreckt er hoch, presst die Giftgas-Maske aufs Gesicht, rennt zum Bunker - um dort festzustellen, dass er der Einzige ist. Es gibt keinen Alarm, er hat nur geträumt.

Ein Mal steht er unter der Dusche, als die Sirenen wieder Raketenbeschuss melden. "So schnell wäre keiner in den Schutzanzug gekommen", sagt Bernhardt. Panik und das Gefühl der Hilflosigkeit kriechen in ihm hoch.

"Man hat die militärische Handlungskette ja ganz sauber gelernt: Maske aufsetzen, kämpfen oder Schutz suchen - aber in dem Szenario hatten wir keine Handlungskette mehr, wir waren völlig ausgeliefert, konnten nicht flüchten, nicht ausweichen, nicht angreifen." Was tun? "Na, weiter duschen!", sagt da ein US-Soldat gleichgültig.

"Das sind die Momente, in denen sich in der Seele die Frequenzen verschieben", erinnert sich Bernhardt. Heißt: Nach seiner Rückkehr konnte er es einfach nicht mehr ertragen, dass Leute minutenlang darüber diskutieren, ob sie in der Mittagspause lieber zum Chinesen oder zum Italiener essen gehen wollen.

Er kann es auch nicht ertragen, wenn Leute hörbar durch die Nase atmen. Er wird dann unruhig, panisch, aggressiv, kann das Gefühl nicht deckeln. Atemgeräusche erinnern ihn unbewusst an die Situationen, in denen er in Kuwait die ABC-Schutzmaske trug - und versuchte, seine eigene Atmung zu kontrollieren.

Er hat jahrelange psychologische Begleitung gebraucht, um die Auslöser für seine Panikschübe zu identifizieren. Dass Soldaten unter Beschuss geraten, ist schließlich nicht ungewöhnlich - es ist Teil ihres Jobs.

Zwei Monate dauert der Einsatz für Christian Bernhardt, dann bedeutet man ihm, er möge sich zwei Wochen Urlaub nehmen. Die letzten Monate seiner achtjährigen Dienstzeit erledigt der Zeitsoldat aus Oer-Erkenschwick Papierkram in der Coesfelder Kaserne.

Wie es ihm ergangen ist, wie er die Zeit verarbeitet, das interessiert niemanden. Niemand fragt. Bernhardt wechselt zur Berufsfeuerwehr, will Rettungsassistent werden. Mehr Einsätze, weniger Papierkram, so wünscht er sich das.

Doch ein Jahr nach dem Kuwait-Einsatz bekommt er immer wieder scheinbar grundlos hypernervöse Anfälle, kann sich nicht runterregeln. Kann nicht schlafen. Ist ständig schlecht drauf. Denkt an Suizid. Trennt sich, zieht um, findet keine Lösung.

Heute weiß er, dass er krank ist. Ein Posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS). Damals aber nahm ihm das keiner ab, schon gar nicht die Bundeswehr, die sich weigerte, Versorgungsbezüge oder Therapiekosten zu zahlen. Er muss beweisen, dass erst der Auslandseinsatz ihn krank gemacht hat.

Sechs Jahre dauert sein Kampf. "Oft habe ich mir gewünscht, ein Bein verloren zu haben, dann wäre das Anerkennungsverfahren leichter gewesen", sagt er. Mittlerweile wird er finanziell versorgt. Doch gesund geworden ist er nie.

"Ich war zehn Jahre in Therapie, ambulant und stationär, nichts hat angeschlagen. Ich will und kann jetzt auch nicht mehr." Christian Bernhardt muss akzeptieren, dass er nicht mehr so funktioniert wie vor dem Einsatz. S

ein lädiertes Innenleben, darum bemüht er sich nun, muss er in den Alltag integriert bekommen. "Aber es gibt immer wieder Ecken, die sind nicht integrationsfähig", sagt er. Scham spielt eine große Rolle.

Viel Unruhe baut er über den Sport ab, aber nach durchwachter Nacht ist er wie eingefroren. Er kommt nicht aus dem Haus, das Ventil Sport ist unerreichbar. Er fürchtet sich dann, dass sich Situationen wie diese wiederholen: Der Nachbar bölkt ihn an, er solle gefälligst woanders parken - dabei handelt es sich um einen öffentlichen Seitenstreifen.

"Da merke ich plötzlich die gleiche Erregung, die man im Einsatz weggedrückt hat. Ich denke: Du Arschloch, auch für dich habe ich mein Leben riskiert." Sofort ist da wieder dieses Gefühl: Leben oder sterben, er oder ich, jetzt. Die Sorge: Was, wenn man den Motzbürger am Kragen zu packen bekommt und nicht mehr loslässt?

Gemeinsam mit anderen hat Christian Bernhardt 2010 den "Bund Deutscher Veteranen" gegründet, eine von mehreren neuen Hilfsorganisationen, die sich um Bundeswehr-Heimkehrer aus Kriegsgebieten kümmern.

"Es ist wichtig, dass wir sichtbar werden", sagt er. 600 Mitglieder hat der Verein mittlerweile, Sponsoren werden gesucht. Denn die Arbeit mit "Einsatzgeschädigten", so korrekt wie mitleidlos klingt der Militär-Jargon, die wächst.

30 ehrenamtliche Fall-Manager kümmern sich, kennen sich aus mit der Papierlage, wissen, wo es Hilfe gibt. Gegen Ängste, Anpassungsstörungen, die Alkoholsucht oder den Beziehungsstress, der manche Soldaten nach dem Einsatz einholt. Nötig wären viel mehr Helfer.

Ein Spießrutenlauf, wie Christian Bernhardt ihn mitgemacht hat, ist heute seltener: "In Einzelfällen funktioniert die Antragsprüfung der Bundeswehr zügig." Doch er kritisiert, dass die Verfahren nicht transparent sind; dass nicht einmal die Zahl der Soldaten, die im Ausland gearbeitet haben, genau erfasst wird.

Auch der General-Anzeiger hat auf seine Anfrage von der Bundeswehr keine Antwort erhalten. "Wir müssen fragen: Was ist mit Soldaten im Einsatz passiert, und was passiert nachher mit ihnen", sagt er. "Da braucht es offeneren Umgang, denn PTBS ist für sie leider Berufskrankheit Nummer 1."

In den USA ist die Langzeitwirkung von Kriegseinsätzen besser vermessen: Dort weiß man, dass 20 Prozent aller Selbstmorde von Veteranen verübt werden.

In Deutschland gibt es für das Afghanistan-Mandat offizielle Zahlen, immerhin. So sind laut Bundeswehr im Jahr 2013 nur 604 Soldaten wegen PTBS behandelt worden.

Der Einsatz, so der Tenor der Studie, scheint den Soldaten geradezu gut getan zu haben: 68 Prozent der Befragten geben an, dass sie "selbstbewusster geworden" seien. Unter den "Auswirkungen auf die eigene Person" entscheiden sich 43 Prozent für "gelassener, rege mich weniger auf".

Der Bund Deutscher Veteranen hat sich eigenes Zahlenmaterial zusammengesucht. 125 000 Einsatzrückkehrer gibt es demnach in Deutschland; gleichzeitig verlassen jährlich 8000 Veteranen die Bundeswehr - und zwar für immer. Die Dunkelziffer für psychische Störungen bei Soldaten nach Auslandseinsätzen schätzt die Technische Universität Dresden auf 50 Prozent.

Erkrankten Soldaten steht, so hat es der Bundestag 2011 entschieden, bei 30-prozentiger Erwerbsunfähigkeit eine Anstellung im Geschäftsbereich des Verteidigungsministerium zu. Doch sehr viele traumatisierte Kameraden empfinden es belastend, weiter täglich Uniformen zu sehen.

"Man könnte für sie doch Jobs in städtischen Verwaltungen schaffen", schlägt Bernhardt vor, "bezahlt werden die Stellen ja ohnehin vom Bund." Auch ein "Tag der Veteranen der Bundeswehr" steht auf der Wunsch-Agenda des Verbandes.

Der Weg dahin ist weit, die Akzeptanz fehlt. Das Wörtchen "Veteran" löst im Nachkriegsdeutschland Beklommenheit aus, auch Desinteresse, oder das, was Bernhardt zynisch die "Olympiade der Betroffenen" nennt.

"Kuwait ist nicht Stalingrad", sagt nämlich mancher altgediente Knochen abschätzig - ganz so, als ob es Weltkriegsveteranen schlimmer gehabt hätten als die moderne Einsatzarmee, die bisweilen im eigenen Land geächtet wird.

"Es ist wichtig, dass wir in dieser Gesellschaft füreinander da sind - und zwar generationenübergreifend", findet er.

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