Kriegsende in Bonn Die Angst bleibt

BONN · 1268 Juden lebten 1933 in Bonn und Umgebung. Nur 17 von ihnen überlebten den Holocaust. Die wenigen Zurückgekehrten gründeten schon 1945 eine neue jüdische Gemeinde in Bonn. Heute zählt sie rund 1000 Mitglieder.

Heiligabend 1938. Seit Tagen herrscht bitterer Frost. Schnee liegt in den Straßen Bonns. Hinter den Fenstern genießen Familien das Fest. Sie singen Weihnachtslieder, naschen Plätzchen, packen Geschenke aus. In einer Bonner Wohnung dreht David Salomon das Gas seines Herdes auf.

Einige Minuten später sind Vater David, Mutter Elisabeth und Sohn Leonhard tot. Gestorben am 24. Dezember 1938.

Die jüdische Familie beging gemeinsam Selbstmord, als geschah, was Jahre zuvor keiner von ihnen für möglich gehalten hatte: Deutschland, das Vaterland, für das Vater Salomon im Ersten Weltkrieg kämpfte, das er bewunderte, hatte sie verstoßen.

Wie viele Juden musste Salomon, der bis 1935 eine Getreidehandlung im Haus Heerstraße 5 betrieben hatte, erleben, wie Juden überall in Deutschland systematisch entrechtet und gesellschaftlich isoliert wurden. Am 10. November, gut einen Monat vor seinem Tod, gehen die neue Bonner Synagoge am Rheinufer und alle anderen Synagogen in Flammen auf.

Suizid erschien den Salomons und auch anderen Juden in Bonn, wie zum Beispiel dem berühmten Mathematiker Felix Hausdorff und seiner Frau, als einziger Ausweg, um dem Martyrium der Deportation zu entkommen.

Für andere Bonner Juden führte der Weg 1941 zunächst in das Benediktinerinnenkloster „Zur ewigen Anbetung“ in Endenich, das die Gestapo als Sammellager umfunktioniert hatte. Von dort werden sie ab Herbst desselben Jahres in verschiedene Konzentrationslager deportiert.

Die Geschichte der Familie Salomon ist nur eines von unzähligen Beispielen für das Grauen, das Deutschland in jenen Jahren erfasste. Es lag abseits und doch bereits auf dem Weg zu jener Tötungsmaschinerie, die die Ermordung von mehr als sechs Millionen europäischen Juden und anderer Bevölkerungsgruppen zu einem unvergleichbaren Ereignis macht.

Familie Salomons letzte Ruhestätte befindet sich in einer hinteren Ecke des jüdischen Friedhofs in Bonn-Castell. Ein flacher, unscheinbarer Stein unter einer jungen Hainbuche markiert das Grab. Der Name darauf ist nach Jahrzenten nur noch schwer zu erkennen.

Bis heute spiegelt der Friedhof an der Römerstraße nicht nur die dunkelsten Jahre der Geschichte Bonns wider, er gibt auch Zeugnis für den Neuanfang jüdischen Lebens nach dem Holocaust.

„Innerhalb einer jüdischen Gemeinde nimmt ein Friedhof eine besondere Bedeutung ein“, erklärt Leah Rauhut-Brungs, die regelmäßig Führungen anbietet.

In vielen Städten, in denen sich neue jüdische Gemeinden sammeln, ist der Besuch der Gräber der Vorfahren eine der ersten Amtshandlungen. „Bejt Chajim“, so der hebräische Ausdruck für Friedhof, heißt übersetzt „Haus des Lebens“.

„Im Judentum ist ein Grab für die Ewigkeit bestimmt“, erklärt Rauhut-Brungs. „Wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert“, so ein jüdisches Sprichwort.

Am 8. März 1945, zwei Monate vor der Kapitulation der Wehrmacht, marschieren amerikanische Soldaten in Bonn ein. Am 11. April 1945 gestattet die britische Militärregierung den jüdischen Überlebenden in Köln, ihren Gottesdienst abzuhalten; das erste Dokument der Wiedererrichtung jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Holocaust.

Wenige Monate später, im Oktober 1945, gründet sich auch in Bonn eine neue jüdische Kultusgemeinde.

„Es ist nicht viel mehr als eine Handvoll Juden, die den Holocaust überlebt haben und sich nach dem Krieg in Bonn wieder zusammenfinden“, sagt Björn Dzieran von der Gedenkstätte der Bonner Opfer des Nationalsozialismus.

Insgesamt überlebten von den 481 Juden aus Bonn und der Region, die bis zum Sommer 1942 im Sammellager in Endenich interniert worden waren, nur acht den Holocaust.

Zu ihnen zählte der Geografie-Professor Alfred Philippson. Er überlebte das KZ Theresienstadt und kehrte 1945 als 81-Jähriger zusammen mit seiner Frau Margarete und Tochter Dora in seine Heimatstadt zurück. Trotz des erlittenen Unrechts und des Verlustes zahlreicher Verwandte und Freunde wollte Philippson dazu beitragen, dass ein neues Zusammenleben von Tätern und Opfern in Deutschland möglich wird.

In einer Denkschrift betonte er, es sei die selbstverständliche Pflicht des deutschen Volkes, den wenigen zurückgekehrten Juden die an ihnen verübten Verbrechen soweit wie möglich wieder gutzumachen.

In das Goldene Buch der Stadt schreibt sich Philippson später mit den Worten ein: „Die Liebe zur Heimat ist das köstliche Band, das uns mit der Erde und der Menschheit verbindet.“ 1953 stirbt er mit 89 Jahren.

Sein Grab liegt wie das der Familie Salomon im nördlichen Feld des jüdischen Friedhofs. Nur wenige Schritte weiter weist ein Grabmal auf Siegfried Leopold hin. Wie Philippson konnte auch er aus dem KZ Theresienstadt befreit werden.

Zurück in Bonn, stellt er der noch kleinen Gemeinde anfangs zwei Zimmer als Bet- und Versammlungsraum zur Verfügung. Im Lauf des Jahres 1946 wächst die jüdische Gemeinde auf 105 Mitglieder an. Siegfried Leopold wird ihr erster Vorsitzender.

Auch an vielen anderen Orten beginnen die Überlebenden schon in den ersten Wochen nach der Befreiung mit der Wiederaufnahme jüdischen Lebens. Jedoch waren viele der 50 000 in Deutschland befreiten Juden nach dem Krieg heimatlos.

Hinzu kamen in den ersten Jahren nach Kriegsende Hunderttausende jüdische Flüchtlinge, vorrangig aus Osteuropa, die – eine traurige Ironie der Geschichte – ausgerechnet im besetzten Deutschland einen sicheren Zufluchtsort suchten.

Sie zählten zur Gruppe der acht Millionen heimatlosen Ausländer in Deutschland (Displaced Persons, kurz: DP) und waren in sogenannten DP-Lagern untergebracht.

In diesen mitunter heillos überfüllten Lagern konnte es passieren, dass sich jüdische Überlebende mit untergetauchten Nazis und nach Deutschland geflohenen Kollaborateuren denselben Raum teilen mussten – für die Opfer oftmals unmutbare Zustände.

Traurige Realität für viele jüdische Überlebende war auch, dass sie in den ersten Nachkriegsjahren auf eine deutsche Bevölkerung trafen, die sich vor allem selbst als Opfer sah und bei der ein angelernter Judenhass weiterschwelte.

„Zwölf Jahre antisemitischer Erziehung konnten nicht in wenigen Monaten ausgetilgt werden“, schreibt der Historiker Michael Brenner in seinem Buch „Nach dem Holocaust“.

Für viele Juden, die nach dem Krieg in Deutschland lebten, war das Land der Täter lediglich Zwischenstation auf dem Weg in die USA oder nach Israel. Was sie hielt, waren oftmals ihre Bemühungen um persönliche Wiedergutmachung.

Für die entsprechenden Anträge waren die Überlebenden aufgefordert, (oftmals unmögliche) Nachweise zu ihren enteigneten Besitztümern zu erbringen. 1950 schufen die Landesverbände eine Dachorganisation, den Zentralrat der Juden in Deutschland, die sich zu Beginn intensiv für Wiedergutmachung einsetzte.

Für die Opfer stellte sich der Prozess als sehr belastend dar. „Die Versuche, Wiedergutmachungsansprüche geltend zu machen, endeten oftmals in einer nochmaligen Demütigung der Opfer“, sagt Dzieran.

Mit der Gründung des Staates Israel 1948 verlassen viele jüdische Überlebende die DP-Lager und die Gemeinden in Deutschland. Auch die Bonner Gemeinde schrumpft zunächst. Nicht selten müssen sich Juden, die ihre Zukunft zu dieser Zeit dennoch in Deutschland planten, Kritik, sogar Warnungen anhören.

Dora Philippson gehörte zu jenen, die sich zum Bleiben entschieden hatten. Die Studienrätin wird in der Folge eine prägende Persönlichkeit in der jüdischen Gemeinde Bonns.

Philippson, die nach ihrem Tod 1980 direkt hinter dem Grab ihres Vaters und seiner Frau Margarete beerdigt wurde, organisierte Unterkünfte für Überlebende, kümmerte sich um Kranke und holte Erkundigungen über vermisste Familienangehörige ein.

1954 wird sie Mitbegründerin der Bonner Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die sich bis heute für den interreligiösen Dialog einsetzt.

Mit der 1948 getroffenen Hauptstadtentscheidung kommt auch der Bonner Gemeinde besondere Bedeutung zu: Für viele jüdische Organisationen aus dem In- und Ausland wird sie zu einer zentralen Anlaufstelle. Hinzu kommt die Erweiterung ihres Einzugsgebietes, als die zuvor eigenständige Siegburger Synagogengemeinde in der Bonner Gemeinde aufgeht.

1957 wird – auch der steigenden Mitgliederzahl geschuldet – mit der Planung einer neuen Synagoge begonnen. Am 26. Mai 1959 wird sie an der heutigen Tempelstraße eingeweiht.

Heute umfasst die Bonner Synagogengemeinde annähernd 1000 Mitglieder und damit fast so viele wie vor 1933. In Deutschland existieren heute (Stand: 2013) 108 jüdische Gemeinden in mit rund 101.300 Mitgliedern. Noch 1989 waren es in Bonn gerade einmal 202 Mitglieder.

Der rapide Zuwachs ist vor allem der Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjetstaaten zu verdanken. „Ich sage immer, Gott hat uns die Juden aus Osteuropa geschickt“, so die heutige Vorsitzende der Bonner Synagogengemeinde. Ihren Namen möchte Sie nicht in der Zeitung lesen.

Tag und Nacht bewacht eine Polizeistreife die Bonner Synagoge. „Das gibt ein gutes Gefühl“, sagt sie. „Die Leute hier haben Angst.“ Auch 70 Jahre nach Kriegsende ist offener oder latenter Antisemitismus in der Gesellschaft verankert. Die Anschläge in Paris und Kopenhagen zeigten, dass sich die Situation verschärft habe, so die Vorsitzende.

Auf dem jüdischen Friedhof an der Römerstraße werden heute nur noch selten Bestattungen durchgeführt. Nur wenige Gräber wurden nach dem Jahr 2000 angelegt. Eines davon gehört der 2004 verstorbenen Else Waldmann.

Sie war die letzte in Bonn wohnende Jüdin der 474, die im Kloster „Zur ewigen Anbetung“ interniert waren. Waldmann engagierte sich nach 1945 lebenslang in der jüdischen Gemeinde und berichtete jungen Menschen von ihren Erlebnissen.

Sie hätte in die USA auswandern können, doch sie kehrte nach Bonn zurück: „Dort bin ich geboren, ich liebe Bonn, ich liebe Beethoven, und die Gräber meiner Familie sind hier.“

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