Vorfahren im 2. Weltkrieg Der SS-Offizier in der Familie

Zufällig stößt unsere Autorin auf den akribisch erforschten Stammbaum ihrer Urahnen - und auf die Identität des Ahnenforschers: Professor Günther Franz, enger Mitarbeiter des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg.

Alles fing ganz harmlos an. Zufällig fand ich in vergilbten Familienpapieren einen handgeschriebenen Stammbaum. Der reicht von einem Urahn namens Georg Franz, der 1527 im thüringischen Zeulenroda als Ratsherr wirkte, bis zu einem Johann Heinrich Franz. Der war Ende des 18. Jahrhunderts als Gerber ins nahe Greiz gezogen.

Interessiert lese ich mich in die Aufsätze des unbekannten Ahnenforschers ein. In spröden Worten führt der Mann, der mit mir irgendwie verwandt sein muss, die Linie bis, hoppla, zu meinem Großvater, dem Greizer Weiß- und Sämisch-Gerbermeister Karl Franz.

Und an den erinnere ich mich lebhaft: Hat dieser weißhaarige Alte mich doch als Kind in die geheimnisvolle Welt dieses uralten Handwerks reinschnuppern lassen. Geduldig zeigte er mir, was gerade an blutigen Tierhäuten hereingekommen war, wie sie gereinigt wurden und mit was für merkwürdigen Flüssigkeiten sie dann in den riesigen Fässern rumpelten.

Eiskalt und zugig war die Werkstatt am Elstersteig, wo das Familienhaus noch heute den Schriftzug meines Urgroßvaters Paul Franz trägt. Alles stank bestialisch. Was mich aber als Kind nicht störte.

Da hatte sich also jemand mit dem Stammbaum die unglaubliche Mühe gemacht, zu belegen, was in der Familie mütterlicherseits immer gerne erzählt wird: Man ist bis ins frühe 16. Jahrhundert nachzuweisen, als überregional bekannte Gerberdynastie. Ich krame das unscharfe Foto einer Urkunde von 1965 hervor.

Die war den Brüdern Karl und Heinrich Franz in DDR-Zeiten von ihrer Genossenschaft zum 350. Gerberjahr verliehen worden. 1615 wurde also der Grundstein dieser Dynastie gelegt. Der Stammbaum bestätigt das.

Denn ab einem 1585 geborenen Enkel des Ratsherrn haben so gut wie alle männlichen Nachkommen dieses Handwerk gelernt, lese ich - und zeichne den Stammbaum weiter: In direkter Linie waren also zehn Gerbermeister mit dem Familiennamen Franz belegt. Und ich füge noch einen elften hinzu, und zwar die erste Gerberin, meine Tante.

Die kommt, wie fast alle Franzens-Frauen, in keinem Dokument vor. Dabei hat die Tante den knochenharten Beruf noch bis zur Wende ausgeübt. Der Ahnenforscher, dessen letzter Aufsatz 1987 datiert, war halt ein Historiker vom alten Schrot und Korn.

Immerhin muss der alte Fährtensucher über Jahre und ganz ohne Internet zerfledderte Zins- und Geschossbücher studiert haben, "Unmündige Kindleinbücher", Kirchenrechnungen, Einnahmebücher von Pfarreien, Häuserchroniken und andere Urkunden, die den Dreißigjährigen Krieg, die Französische Revolution und diverse Befreiungskriege überlebten.

Ich recherchierte selbstständig weiter, fand Fotos, Briefe und andere Dokumente, entdeckte Männer in der Familie, die tagsüber blutige Tierhäute wuschen und abends Philosophiebücher lasen, und Gerbersöhne, die romantische Gedichte schrieben. Ich veröffentlichte meine privaten Forschungsergebnisse in der Greizer Ostthüringischen Zeitung und den jährlichen Heimatblättern.

Und dann kam der Moment der Wahrheit. Professor Günther Franz hieß dieser Ahnenforscher der Familie, der sich viele Jahre in den Aktenbergen festgebissen hatte. Mit Erstaunen lese ich: Der Herr Professor hatte Helfer, einen Stadtarchivar und einen Genealogen. Noch zwei, drei Klicks - und ich stelle entsetzt fest, wessen Ahnenforschung ich da weiter betreibe: Günther Franz (1902-1992) entpuppt sich als einer der aggressivsten Zuarbeiter des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg.

Eine steile Nazi-Karriere: "Bauern-Franz" nannte man das Parteimitglied der ersten Stunde, weil der Historiker die Machtergreifung Adolf Hitlers als Vollendung der Ziele der Bauernkriege von 1525 interpretiert habe, sagt die Sekundärliteratur.

"Rassen-Günther" rief man ihn, weil der SS-Rottenführer seine sogenannte "Gegnerforschung" im Zeichen eines angeblichen "Rassenkriegs" betrieben habe. Beim Erfurter Historikertag 1937 habe der zwei Meter große Judenhetzer in SS-Uniform Hof gehalten, schreibt der Geschichtsprofessor Wolfgang Behringer.

Mir wird schwarz vor Augen. Noch einmal greife ich zum Stammbaum: Gott sei Dank trennen sich meine und seine Linie schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Seine Gerber-Ahnen blieben in Zeulenroda, meine wanderten an die Weiße Elster aus. Ich lese weiter. "Rassen-Günther", der Blut-und-Boden-Schriften verfasst und kritische oder jüdische Kollegen diffamiert habe, sei nach 1945 vom Hochschuldienst suspendiert gewesen.

Er habe sich aber nie verantworten müssen oder öffentlich Einsicht gezeigt. Franz habe sich staatstragend gegeben. Kurz vor seinem Tod habe er noch dreist behauptet, sein Fach habe sich immer von politischer Vereinnahmung freihalten können.

Im Mai 1944 hatte derselbe Mann noch einen Zeitungsartikel mit "Die Heilung aus dem Blut - Deutschlands Erneuerung" überschrieben. Anfang der 50er Jahre sei der begabte Netzwerker schon wieder auf eine gute Position geschlüpft: im Niedersächsischen Amt für Landesplanung.

Und ihm sei sogar noch die Rückkehr in die Wissenschaft gelungen: Von 1963 bis 1967 war er Rektor der heutigen Universität Hohenheim. Eine deutsche Karriere.

Ich beginne, in meiner Familie nachzuhaken. Wer hat von "Rassen-Günther" gewusst? Wie hatten die älteren Generationen seine Ahnenforschung kommentiert, auf die man ja offensichtlich stolz gewesen war? Hatte niemand über den prominenten SS-Hauptsturmführer gelesen, der bis zuletzt zum "totalen Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften zur Unterstützung der deutschen Kriegsführung" getrommelt hatte?

Die Verwandtschaft reagiert geschockt. Ein Vollblut-Nazi hatte ihren Stammbaum erstellt? Nein, der Großvater (der Gerber, der abends philosophische Bücher las) habe nie ein Wort über diesen "Bauern-Franz" geäußert. Gerber Karl Franz war als Regimekritiker und Pazifist bekannt gewesen. Hatte er "Rassen-Günther" bewusst aus seinem und seiner Familie Leben gestrichen?

Aus der weiteren Verwandtschaft schreibt einer zurück, es könne sein, dass der Professor mal zu Besuch kam. Ansonsten betretenes Schweigen. Ich nehme mir noch einmal die Gerberaufsätze des Nazis vor. Nein, mir fällt auch bei nochmaligem Lesen keine Nazi-Parole auf. Oder weisen die Begriffe "Sippe" und "Blut" schon in diese Richtung? Ich grüble.

Die dunkelbraune Vergangenheit des Günther Franz liegt mir schwer im Magen. Das ungute Gefühl bleibt. Warum forschte ein Nachkomme eines ganz anderen Familienzweigs so akribisch, um voller Stolz angeblich seine 350-jährige Gerberlinie zurückzuverfolgen? Entsprach das nicht doch dem Wunschdenken der Nazis, die "reinrassige" Herkunft unserer Familie aufzuzeigen, ohne weiter auf die Menschen einzugehen, die anders waren oder nicht konforme Wege gingen?

Ich schaue noch einmal die Papiere durch. Jetzt werden gerade die Lücken, die Franz ließ, spannend. Etwa die der Vorfahrin auf Familienbildern von 1865. Trotzig schaut da eine jugendliche Gerberstochter zum Fotografen hin. "Rassen-Günther" ist sie keinen Hinweis wert gewesen. In die Großstadt soll sie geflohen sein. Unverheiratet. Sicher ein Skandal.

Hat sie sich allein behauptet, ist sie ein freier Geist gewesen oder unter die Räder geraten? Oder daneben ihr kleiner Bruder, ebenfalls namenlos für "Bauern-Franz". Ich forsche weiter: Auch der sei verschwunden. Vom Fernweh geplagt, in die "neue Welt" nach Argentinien übergesetzt - von wo aus er als mittelloser blinder Passagier irgendwann wieder in der Heimat strandete.

Der so glatte Gerberstammbaum des "Rassen-Günther" bekommt Ecken und Kanten und damit endlich Leben. Ich werde weitermachen. Dem alten Nazi zum Trotz will ich noch viele schillernde Persönlichkeiten entdecken.

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