Moderate Stöße sind nicht schädlich

Wissenschaftler der Kölner Sporthochschule nehmen in ihrem Lauflabor Joggingschuhe und Bewegungsabläufe unter die Lupe

Köln. Der Raum ist abgedunkelt und nur schwach von Rotlicht erhellt. Plötzlich blitzt Stroboskoplicht im ultrakurzen Takt. Schnell gleitet Anja Niehoff über die in den Boden eingelassenen Drucksensoren. An ihren Armen, Beinen und am Becken befinden sich kleine silberfarbene Kugeln, die im Blitzlicht aufleuchten. Sechs Hochgeschwindigkeitskameras zeichnen jede noch so kleine Bewegung der Testperson auf. Anja Niehoff befindet sich weder in der Disko, noch im Fernsehstudio. Die Szene spielt sich hoch über Köln im zehnten Stock der Deutschen Sporthochschule ab. Dort hat das Institut für Biomechanik kürzlich ein neues Lauflabor eingerichtet.

Direkt neben den Kameras blicken die Forscher konzentriert auf ihre Computerbildschirme. Dort erscheint ein "Double" von Anja Niehoff. Ähnlich einem Zeichentrickfilm vollführt ein Strichmännchen ihre zuvor per Video festgehaltene Bewegung. Bei jedem Schritt, den die Figur auf dem Bildschirm zurücklegt, schießen bunte Pfeile aus dem Boden. Berühren Ferse oder Zehen der Testperson den Boden, sind die Pfeile besonders lang. "Das sind Vektoren", erklärt Institutsleiter Professor Gert-Peter Brüggemann, "sie zeigen an, wie stark die Kräfte sind und in welche Richtung sie wirken."

Die leibhaftige Anja Niehoff steht ganz entspannt in ihrem Sporttrikot da und pickt die mit Klebeband fixierten Silberbällchen von ihrem Körper. Brüggemann nimmt eines in die Hand und hält es ins Licht: "Der ''Marker'' ist so konstruiert, dass er Licht in die selbe Richtung zurückwirft, aus der es kommt." Mit den Bällchen und mehreren Kameras lässt sich deshalb jede Bewegung aufzeichnen und dreidimensional im Rechner nachbilden.

Mit Bildverarbeitungsprogrammen analysieren die Wissenschaftler die Bewegungsabläufe von Menschen. "Pro Sekunde nehmen wir mit jeder der sechs Kameras 250 Mal eine Million Pixel auf", beschreibt Brüggemann die unglaublichen Datenmengen, die bei einer Sekunden kurzen Bewegung anfallen. Klar, dass die kein Rechner in einer vernünftigen Zeit auswerten kann. Deshalb der Trick mit den silbernen Bällchen, die die Datenauswertung stark vereinfachen: "Wir reduzieren die Bewegung modellhaft auf einen starren Körper mit Gelenken. Die Kameras nehmen nicht das gesamte Bild, sondern nur die Position der Marker auf." Ein Bällchen steht dann beispielweise für ein Kniegelenk oder einen Unterschenkel. Setzt der Rechner aus diesen Einzelteilen ein Bild zusammen, wird aus Anja Niehoff ein Strichmännchen.

Das bannt wiederum das Interesse der Wissenschaftler. "Man kann an Hand der Fortbewegung leicht Auffälligkeiten im Bewegungsapparat der Testperson feststellen", sagt Brüggemann, der seit vergangenen August das Institut leitet und das Lauflabor mit dem modernsten Gerät ausgerüstet hat. Mit ihren Kameras und Rechnern entgeht den Wissenschaftlern kein Hinken, Fußabknicken oder Hüftleiden.

Doch auch die Sportschuhproduktion profitiert von dem Kölner Lauflabor. "Damit lassen sich sehr gut Belastungen von Knochen und Knorpeln analysieren", berichtet Brüggemann und holt einen futuristisch anmutenden Joggingschuh aus seinem Schrank. Statt einer Sohle sind an der Ferse vier rote Federn mit einer Platte angebracht. Er quetscht den Schuh fest mit seinen Händen seitlich auf den Schreibtisch: "Eine typische sportmedizinische Fragestellung: Welche Belastungen treten beim Aufsetzen der Ferse auf?" Auch das lässt sich im Lauflabor prüfen - mit und ohne Schuhe.

Mit ihrem Blick durch die Laborkameras werfen die Wissenschaftler manche lieb gewonnene Lehrmeinung über den Haufen. Nach den Erkenntnissen Brüggemanns sind "moderate Stoßkräfte" beim Laufen nicht schädlich. Im Gegenteil: Die Knochendichte am Fersenbein lasse sich dadurch sogar steigern. "Früher hieß es: Stöße dämpfen, dämpfen, dämpfen." Heute sei Dämpfung im Joggingschuh vor allem ein Komfortaspekt - für diejenigen, die wie auf Waldmoos laufen möchten. "Viel entscheidender ist, wie die Gelenke beim Stoß angeordnet sind", weiß der Biomechaniker. Kippt beim Aufsetzen der Schuh nach innen, schadet das nicht nur den Sehnen, weil sie einseitig gespannt sind. Auch die Kniegelenke können in Mitleidenschaft gezogen werden, da der Unterschenkel schräg zum Oberschenkel steht und dadurch die Gelenkköpfe stark unter Druck geraten.

Viele "Designfehler" bei Laufschuhen führt der Biomechaniker außerdem auf Tierversuche aus den 80er Jahren zurück. Damals hat man an Hand von Schafen und Kaninchen getestet, wie sich stoßartige Belastungen auf den Bewegungsapparat auswirken. Brüggemann: "Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass diese Tiere nur wenige Kilometer pro Tag gehen. Scheucht man sie ohne Anpassungszeit 15 Kilometer täglich, verwundert es nicht, wenn das die Biologie nicht mitmacht." Auch mancher Schuh-Designer verwässert nach den Erfahrungen des Professors gute biomechanische Konzepte, weil er der Schönheit den Vorzug gibt.

Funktion geht dagegen in der Grundlagenforschung der Sporthochschule vor, deren Ergebnisse sowohl in die Sportmedizin und Rehabilitation als auch in die Entwicklungsabteilungen der Schuhhersteller einfließen. So waren die Kölner Biomechaniker an der Entwicklung eines Handballschuhs beteiligt, den die Olympioniken in Sydney getragen haben. Doch nicht nur Sportler profitieren von der Forschung im Lauflabor.

"Wir sind gerade dabei, speziell Schuhe für die Gastronomie zu entwickeln", berichtet Brüggemann und zeigt eine Mischung aus elegantem Ausgeh- und schwarzem Joggingschuh. Zwei Verletzungsrisiken von Kellnern soll der Schuh künftig minimieren: Sie knicken häufig mit den Füßen auf kleinen Unebenheiten um oder rutschen aus.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Helge Matthiesen

zu Warnstreiks bei der
Zeitenwende am Boden
Kommentar zu Warnstreiks bei LufthansaZeitenwende am Boden
Aus dem Ressort