Fukushima Zwei Jahre nach der Dreifachkatastrophe in Japan

BANGKOK · Selbstmorde und Ehekatastrophen prägten die Zeit nach der Katastrophe von Fukushima. Niemand traut mehr den Nahrungsmitteln. Die Regierung plante ungerührt den Bau neuer Atomkraftwerke.

 Was übrigblieb: Die Stadt Kisenuma nach dem Erdbeben.

Was übrigblieb: Die Stadt Kisenuma nach dem Erdbeben.

Foto: dpa

Der japanische Filmer Sian Sono ist hin- und hergerissen. Zwei Jahre nach Japans Genpatsu, der Dreifachkatastrophe von einem verheerenden Erdbeben, gefolgt von einem gigantischen Tsunami und der anschließenden Atomkatastrophe von Fukushima Daichi, hat der Avantgarde-Regisseur zwei Filme gemacht.

In dem sarkastischen "Land der Hoffnung" schildert Sono das Leben eines älteren Ehepaars, das nach einer atomaren Katastrophe in der Zukunft Selbstmord begeht. Die "Fantasie über die Wirklichkeit", wie Sono "Land der Hoffnung" beschreibt, weist kaum Ähnlichkeiten mit seinem blutrünstigen und brutalen Film "Himizu" auf, in der er eine unverantwortliche, grausame Welt der Erwachsenen vorstellt, die einer jüngeren Generation in Japan eine verstrahlte Welt hinterlässt.

Es sind aufwühlende Filme einer japanischen Wirklichkeit, die Atsushi Funashi, Regisseur des dokumentarischen "Nuclear Nation" über die von radioaktiver Atomstrahlen vertriebenen Bewohner der Stadt Futaba im Schatten des Atomkraftwerks Fukushima Daichi, so beschreibt: "Die evakuierten Leute sind vergessen worden. Die kriminelle Verantwortung wurde vergessen. Japans Antwort auf die Ereignisse vom 11. März 2011 ist unverantwortlich."

Rund 20 .00 Menschenleben forderte die immense, bis zu 14 Meter hohe Flutwelle, die Japans Nordostküste verwüstete. Über 300.000 Japaner mussten in Notunterkünften untergebracht werden - etwas mehr als 100.000 von ihnen evakuierten die Behörden nach fast einwöchigem Zögern aus einer Gegend im Umkreis von 20 Kilometern um Fukushima. "Unsere Stadt ist weg", sagt Masayoshi Watanabe in einer bewegenden Szene in "Nuclear Nation" nach einem kurzen Besuch in Futaba, "Es ist nur noch Land." So wird es wahrscheinlich noch jahrzehntelang bleiben.

Der japanische Stromkonzern TELCO, der Fukushima betreibt, verkündet zwar zwei Jahre nach der Dreifachkatastrophe immer noch ungerührt vermeintliche Siegesmeldungen über die Bannung der Gefahr. "Wir machen mehr Fortschritte als erhofft", hieß es der jüngsten Mitteilung wenige Tage vor dem zweiten Jahrestag der schlimmsten Atomkatastrophe seit Tschernobyl in der Ukraine im Jahr 1986. V

ersteckt in der unteren Hälfte der Erklärung folgte dann eine Erläuterung, die den Verdacht bestärkt, dass die Gefahrenlage dennoch unverändert erscheint. Der Grund: Immer noch lagern verbrauchte Atombrennstäbe in wassergefüllten offenen Kühlbecken unter freiem Himmel auf den Dächern der Reaktoren.

Die neue nationalistisch-konservative Regierung von Shinzo Abe verkündete nach ihrem Amtsantritt bereits, sie werde Japans Nuklearindustrie trotz massiven Widerstands in der Bevölkerung wiederbeleben.

Doch eine zündende Idee, was mit dem Atommüll von Fukushima und anderen Atomreaktoren im Land passieren soll, fehlt ihr. Angesichts der hohen Radioaktivität, die zwei Jahre nach der Katastrophe immer noch in Meeresfischen aus der Region um Fukushima gefunden wird, sind Experten überzeugt, das zwei Jahre nach der Kernschmelze in mindestens zwei der beschädigten Reaktoren von Fukushima immer noch Cäsium aus dem Atomkraftwerk in den Ozean dringt. "Fischfang in dem Gebiet muss möglicherweise noch für die kommenden zehn Jahre verboten werden", schrieb Ken Buesseler von der Woods Hole Oceanographic Institution in einer Studie.

Der Dokumentarfilmer Yojyu Matsabayshi dagegen fischt längst nicht mehr nach Antworten: "Menschliche Arroganz hat die Krise verursacht", sagt er. Und: "Wir waren überzeugt, wir könnten die Natur beherrschen. Deshalb ist das passiert. Wir wussten alle, dass wir vom Strom aus Fukushima abhängig waren. Wir sollten uns nicht damit herausreden, das wir nicht Bescheid wussten." Zwei Jahre nach der Katastrophe wissen viele der überlebenden Opfer nicht nur, dass die Natur unkontrollierbar ist. Sie kommen selber kaum noch damit zurecht, ihre eigenen Gemüter unter Kontrolle zu halten.

Die Nerven vieler Japaner, die in den Strahlenschirm von Fukushima gerieten, liegen blank, sodass selbst ein Geburtstagskuchen zur Ehekrise führen kann. Das musste eine Familie in dem malerischen Städtchen Koriyama am Rande der Hügel erleben, die sich nördlich von Fukushima erheben. Der Ehemann hatte die Sahnetorte als Überraschung für seine Frau, eine junge Mutter von zwei Töchtern, mitgebracht. Doch das strahlende Lächeln des Mannes beantwortete die Frau mit der ernüchternden Frage: "Ist die Sahne sicher?"

Seit zwei Jahren ist das Leben der Familie von zwei großen Ängsten bestimmt. Sie fürchten wie andere Überlebende von Fukushima auch als moderne "Hibakusha" gebrandmarkt zu werden. Der Begriff, der wörtlich übersetzt "Explosionsbetroffene" bedeutet, stempelte jahrzehntelang die Überlebenden der Atombomben, mit denen die USA gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Städte Hiroshima und Nagasaki dem Erdboden gleich machten, zu Japanern zweiter Klasse.

Jetzt werden Japaner aus der Umgebung von Fukushima bei Bewerbungen aufgefordert, ein Attest über ihre radioaktive Strahlung beizubringen. Sie wurden von Blutspenden ausgeschlossen. Ein Kinderkrankenhaus in Tokio hinderte die Großeltern eines neugeborenen Säuglings am Betreten des Hospitals, weil sie aus der Fukushima-Region kamen.

Medien und Webseiten lassen durchklingen, dass Frauen aus der Gegend "beschädigte Ware" seien. Selbst der bekannte Anti-Atomaktivist Hobun Ikeya von der "Ecosystem Conservation Society" verstieg sich zu der Bemerkung: "Leute aus der Fukushima-Gegend sollten nicht heiraten, weil die Zahl von Babies mit Deformationen nach der Atomkatastrophe in den Himmel schnellen wird."

Deshalb ist die Familie in der Stadt Koriyama finster entschlossen, die Identität ihrer beiden Töchter geheim zu halten. Das Leben in dem Ort, der vom Erdbeben kaum beschädigt, von dem Tsunami überhaupt nicht betroffen, aber von austretender Strahlung aus Fukushima erreicht wurde, ist schon schwierig genug. Täglich gibt es Meldungen über neue "Hotspots", an denen erhöhte Radioaktivität festgestellt wurde. "Jedes neue Jahr beginnt für uns mit der bangen Frage, ob es das Jahr sein wird, in dem eines unserer Kinder an Krebs erkrankt", sagt die Mutter in Koriyama.

Die zweite große Frucht neben der Angst vor lebenslanger Diskriminierung der Familie besteht denn auch darin, verseuchte Nahrungsmittel zu konsumieren. Die Geburtstagsüberraschung des Ehemanns verwandelte sich blitzschnell in eine ausgewachsene Ehekrise. Der Familienvater musste zugeben, dass er angesichts seiner spontanen Entscheidung vergessen hatte, nach der Herkunft der Sahne zu fragen. Seine Frau, das Geburtstagskind, weigerte sich prompt, den Kuchen anzurühren. Zwei Tage lang schwieg sich das Ehepaar anschließend gegenseitig an.

Tag für Tag stehen Familien in der Gegend rund um Fukushima immer wieder vor Entscheidungen und stellen die Frage: Sollen wir in eine andere Gegend ziehen? Die Antwort fällt meist negativ aus, weil angesichts der Wirtschaftslage ein Umzug oft mit Arbeitslosigkeit einhergeht.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Fans gehen neben einem Auto der
„Die Bedrohungslage ist hoch“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Gespräch„Die Bedrohungslage ist hoch“
Zum Thema
Aus dem Ressort