„Es muss mehr Geld ins System“ Malu Dreyer äußert sich im Interview zur Lage der SPD

Mainz · Die Mainzer Regierungschefin spricht über das Sozialstaatsprogramm ihrer Partei und dessen Finanzierung, den Klimaschutz und ihr Problem mit den Grünen.

Frau Dreyer, wie viel Arbeiterpartei steckt heute noch in der SPD?

Malu Dreyer: Ganz viel! Auch wenn ich die SPD heute eher als die Partei der Arbeit bezeichne. Der Arbeiterbegriff hat sich doch sehr verändert. Aber wir treten weiter für Arbeitnehmerrechte ein, ganz egal, ob sie am Band, dem Pflegebett, der Paketzustellung oder in der Cloud arbeiten.

Ihre Parteivorsitzende Andrea Nahles setzt sehr stark auf traditionelle Sozialpolitik. Wird man damit dem Bild einer Volkspartei noch gerecht?

Dreyer: Wir passen unsere Sozialstaatspolitik den heutigen Bedingungen an. Wir begleiten die Menschen in der digitalen Revolution, die unsere Arbeitswelt grundlegend verändern wird. Wir machen Politik nicht für eine Klientel, sondern für alle. Damit bleibt die SPD natürlich eine Volkspartei, unabhängig von Umfragen oder Wahlergebnissen.

Die neuen Vorschläge der SPD zielen stark auf Menschen mit geringem oder gar keinem Einkommen ab: Es geht um Arbeitslose, eine Kindergrundsicherung und die Grundrente. Wo bleibt die Mitte?

Dreyer: Wir wollen den Menschen, die heute in Arbeit sind und ein gutes Auskommen haben, dabei helfen, dass es trotz digitaler Umbrüche so bleibt. Die SPD ist die einzige Partei, die für ein Recht auf Weiterbildung kämpft. Wir fördern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und wollen mehr Frauen in den Arbeitsmarkt bringen. Das ist Politik für die Mitte in Reinkultur. Aber wir vergessen auch nicht die, die trotz Arbeit arm sind. 16 Prozent aller Menschen in Deutschland arbeiten Vollzeit und verdienen weniger als 2000 Euro.

Wie soll das Recht auf Weiterbildung aussehen?

Dreyer: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als Schlecker dicht machte, gab es bei uns in Rheinland-Pfalz eine Frau, die nach ihrer Kündigung zur Krankenschwester umschulen wollte. Die Ausbildung aber konnte sie sich nicht leisten. Wir wollen dafür sorgen, dass künftig jeder, der noch einmal einen Wechsel im Berufsleben anstrebt, das auch mit staatlicher Unterstützung tun kann.

Können Sie die Kritik der Wirtschaft verstehen, die mit Verweis auf eine sich eintrübende Konjunktur über zu viel Sozialstaatsprojekte klagt?

Dreyer: Nein, die Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Ich verstehe, dass es besonders für sehr kleine Unternehmen nicht leicht ist, Familienpolitik umzusetzen. Natürlich war es leichter, als es noch keine Elternzeit gab. Gleichzeitig beklagen Unternehmen den Fachkräftemangel. Wenn wir Väter und Mütter beschäftigen wollen, müssen wir ihnen auch die Möglichkeit geben, das mit Familie zu vereinen. Die Investitionen in die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zahlen sich aus.

Altkanzler Gerhard Schröder hat SPD-Chefin Nahles vorgeworfen, wirtschaftliche Zusammenhänge nicht zu verstehen. Hat er den Schuss nicht gehört?

Dreyer: Die Zeiten haben sich sehr verändert. Die Ansprüche von Männern und Frauen sind gestiegen,. Wir haben das begriffen und mit dem Sozialstaatspapier ein entsprechendes Konzept vorgelegt. Es gibt keinen besseren Beweis für Wirtschaftskompetenz als dafür zu sorgen, dass es ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte gibt.

Steigende Kosten werden also über Steuern ausgeglichen?

Dreyer: Wir rufen nicht sofort nach Steuermitteln. Aber in der Pflege wollen wir den Eigenanteil an den Pflegekosten der Menschen deckeln. Bislang liegt der bei den eigentlichen Pflegekosten im Bundesdurchschnitt bei 618 Euro. Das ist aber nach oben offen für die Pflegebedürftigen und kann geradewegs in die Armut führen. Der Anteil der Pflegeversicherung hingegen ist gedeckelt. Deswegen wollen wir ein solidarisches Finanzierungssystem. Damit trotzdem alle Leistungen gleich bleiben, soll unter anderem auch Geld aus Steuermitteln verwendet werden.

Stellen Sie sich eine Vollkaskoversicherung vor? Oder geht es bei der Bürgerversicherung vor allem darum, dass gesetzliche und private Versicherung zusammengelegt werden?

Dreyer: Es geht vor allem um die Deckelung des Eigenanteils, wofür mehr Geld ins System muss. Nach unserer Berechnung soll es dazu einen Ausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung geben, dort liegen 35 Milliarden in einer Rücklage, denn schließlich sind ja auch die Leistungen bei beiden gleich. Zusätzlich ein geringfügiger Anstieg der Beiträge und eben Steuermittel.

Ihre Partei will den Anspruch auf Arbeitslosengeld auf drei Jahre verlängern. Damit werden automatisch die Beiträge steigen, oder?

Dreyer: Wir gehen nicht davon aus, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung steigen werden, wenn sich der Anspruchszeitraum verlängert. Das liegt schlicht und einfach daran, dass derzeit so viele Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind wie niemals zuvor. Ich finde, dass jeder Arbeitnehmer mehr Sicherheit verdient hat, wenn es wirklich mal hart auf hart kommt.

Bleibt es Priorität, die Beiträge zur Sozialversicherung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht über 40 Prozent steigen zu lassen?

Dreyer: Natürlich wollen auch wir Sozialdemokraten Arbeit nicht verteuern. Die Schwelle von 40 Prozent der Sozialbeiträge sollte daher nicht überschritten werden.

Neben der Digitalisierung ist der strengere Klimaschutz eine große Herausforderung für viele Unternehmen. Wann bekennt die SPD Farbe, was ihr wichtiger ist Arbeitsplätze oder das Klima schützen?

Dreyer: Wir haben den Anspruch, dass beides zusammengehen muss. Das ist gelebte Nachhaltigkeit und eine der zentralen Aufgaben der SPD für die kommenden Jahre. Die Kohlekommission, in der auch Gewerkschaften vertreten waren, hat vorgemacht, wie Klimaschutz und ein verantwortlicher Umgang mit Beschäftigten in klimaschädlichen Branchen miteinander vereinbar sind.

Sie haben das Problem, dass heute die Grünen als Fortschrittspartei wahrgenommen werden - vor allem beim Klimaschutz.

Dreyer: Die Grünen stehen schon lange für das Thema ein. Aber es war eine SPD geführte Bundesregierung, die zusammen mit den Grünen den Atomausstieg beschlossen hat. Aber wenn man in die Länder schaut, wo die Grünen mit der Union regieren, bleibt im Praxistest nicht mehr viel von dem übrig, was die Bundespartei in der Opposition so schön formulieren kann.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort