Zum Tod von Egon Bahr Meister der Annäherung

Berlin · Der Architekt der deutschen Ostpolitik, der SPD-Politiker Egon Bahr, ist tot. Der General-Anzeiger blickt auf einen Politiker zurück, der die Hauptstadtzeit Bonns maßgeblich prägte.

 Eher klein von Statur, aber eine raumfüllende Erscheinung: Egon Bahr .im Jahr 2013 in Berlin.

Eher klein von Statur, aber eine raumfüllende Erscheinung: Egon Bahr .im Jahr 2013 in Berlin.

Foto: dpa-Zentralbild

Zwei Dinge galten für Egon Bahr nicht: Rente mit 67 und ein Leben ohne Zigarette. Mit hoher Selbstverständlichkeit ließ sich das SPD-Urgestein auch noch jenseits seines 90. Lebensjahres in sein Büro im vierten Stockwerk des Willy-Brandt-Hauses fahren und arbeitete dort vier bis fünf Stunden. Manchmal an drei, oft auch an vier Tagen in der Woche, wenn ihn nicht auswärtige Termine, Auslandsreisen inklusive, davon abhielten. Nun ist Bahr, 1922 als einziges Kind eines Lehrers im thüringischen Treffurt an der Werra geboren, im Alter von 93 Jahren gestorben, wie seine Partei, die SPD, mitteilte. SPD-Chef Sigmar Gabriel nannte ihn einen "großen Sozialdemokraten und Staatsmann", dessen "größte Belohnung" der Fall der Mauer im November 1989 gewesen sei.

Bahr blieb bis ins hohe Alter nicht nur politisch interessiert, sondern politisch aktiv. Und vor allem hellwach. Ein Laster musste bei so viel politischer Pflichterfüllung und Lust an Diskurs und Debatte auch sein. Wer den früheren Bundesminister und einstigen Wegbereiter der neuen deutschen Ostpolitik ("Wandel durch Annäherung") unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in den 1970er Jahren besuchte, durfte sicher sein, dass Bahr am Ende eines einstündigen Gesprächs vier bis fünf Zigaretten geraucht haben würde.

Den Blick zurück und den Blick nach vorne - beides bewahrte und vereinte Bahr bei vielen öffentlichen Auftritten in Fernseh-Talkshows, bei Parteiveranstaltungen oder auch auf der großen Bühne der Münchner Sicherheitskonferenz. Seine politische Analyse blieb gefragt.

Noch im vergangenen Jahr, zur 50. Auflage der Sicherheitskonferenz, trug er mit seinen da fast 92 Jahren erheblich dazu bei, erstens die Veranstaltung mit Ausblicken zur Zukunft der Nato zu beleben und dann auch noch 364 Lebensjahre geballtes Politikwissen auf dem Podium zu versammeln. Neben Bahr diskutierten, philosophierten und rauchten Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, Ex-US-Außenminister Henry Kissinger sowie der frühere französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing vor prominentem Publikum. Russland-Versteher Bahr, der stets einen guten Draht nach Moskau pflegte, stellte fest: "Wir sind in einer Situation, in der die Nato nicht mehr unumstritten ist." Noch vor wenigen Wochen - bei einem seiner ungezählten Moskau-Besuche - hatte sich Bahr gemeinsam mit dem früheren sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow für eine neue Annäherung zwischen Deutschland und Russland nach der Entfremdung in der Ukraine-Krise ausgesprochen. Russland blieb für Bahr eines der großen Themen eines langen politischen Lebens.

Seine politische Laufbahn hatte Bahr, der nach 1945 zunächst als Journalist arbeitete und unter anderem für den "Tagesspiegel" als Korrespondent auch in Bonn tätig war und später Kommentator beim Berliner "Rundfunk im amerikanischen Sektor" (RIAS) wurde, 1960 begonnen. 1956 in die SPD eingetreten, berief ihn der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD) vier Jahre später zum Sprecher des Berliner Senats.

[kein Linktext vorhanden]In dieser Funktion erlebte Bahr auch den Bau der Mauer am 13. August 1961.Bahr selbst, der sich da gerade in Nürnberg aufhielt, wurde um drei Uhr morgens aus dem Bett geklingelt und machte sich sofort auf den Weg zurück nach Berlin. In einem GA-Interview zum 40. Jahrestag des Mauerbaus sagte er: "Es war eine sowjetische Entscheidung, und es ist deshalb lächerlich, wenn heute gesagt wird, das hätte Ulbricht entschieden oder die DDR. So souverän waren die nie. Das waren sie nur ein einziges Mal. Das war 1989, als sie, ohne die Sowjets zu informieren, die Mauer geöffnet haben. Das war auch das Ende der DDR."

Bahr wurde 1966 mit der Ernennung von Brandt zum Außenminister Sonderbotschafter im Auswärtigen Amt in Bonn. Seine Geheimdiplomatie brachte ihm bald den Spitznamen "Tricky Egon" ein. Entscheidend trieb Bahr auch die Verhandlungen über einen Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten voran, der Ende 1972 unterzeichnet wurde. Bahr blieb bis 1990 Bundestagsabgeordneter und erfuhr nach eigenen Angaben gleichfalls wie Millionen Deutsche aus dem Fernsehen vom Fall der Mauer 1989.

Brandt habe ihn dann noch am Abend angerufen und beide seien gemeinsam am nächsten Tag von Bonn nach Berlin geflogen. An dieser Stelle war vor etwa einem Jahr ein Streit der Zeitzeugen entbrannt: Brandts Witwe, Brigitte Seebacher, und Brandts früherer Büroleiter, Klaus-Henning Rosen, hatten in der "Welt" behauptet, weder habe Brandt am Abend des 9. November 1989 bei Bahr durchgeklingelt noch sei er tags darauf im Flugzeug nach Berlin gewesen.

Bahr blieb im GA-Interview (6. November 2014) bei seiner Darstellung: "Ich bin an diesem 10. November doch nicht nach Berlin gebeamt worden. Ich saß im Flugzeug. Neben mir Willy Brandt, der mit seinen berühmten gelben Redekarten gearbeitet hat, worauf er auch den berühmten Satz schrieb, wonach nun zusammenwächst, was zusammengehört." Zur deutschen Einheit sagte er da: "Ich habe nie an der deutschen Einheit gezweifelt. Ich war nur sicher, Mitte der 80er Jahre, ich würde sie nicht mehr erleben." Er sollte sich täuschen.

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