Interview mit der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft: "Weiter so, das jedoch in stabileren Verhältnissen"

Im GA-Interview spricht die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin über Ladenöffnung am Sonntag und Tempolimits, Schulden und Kitas, Piraten und Norbert Röttgen.

Beginnen wir mit der beliebten Satzergänzung. Wenn Ministerpräsidentin Kraft als SPD-Kanzlerkandidatin nach Berlin geht, ist das...
Kraft: ... unvorstellbar. Ein für alle Mal: Ich bleibe in NRW.

Eine Regierungskoalition mit Norbert Röttgen als Juniorpartner ist eine Möglichkeit, die ich...
Kraft: ... nicht favorisiere.

Eine große Koalition unter Norbert Röttgen ist eine Vorstellung, die...
Kraft: ... nichts mit der Realität zu tun hat.

Ihr Wahlkampf und Ihre Regierungsbilanz stehen unter dem Motto: Gut für NRW. Was war gut in den 20 Monaten Ihrer Minderheitsregierung?
Kraft: Gut war erst mal, dass wir umgesetzt haben, was wir versprochen haben. Der Koalitionsplan war ehrgeizig, weite Teile davon haben wir in kürzester Zeit umgesetzt.

Als da wären...
Kraft: Wir haben die Studiengebühren abgeschafft, das letzte Kita-Jahr gebührenfrei gestellt, der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst wieder den ihr gebührenden Platz gegeben. Wir haben das Tariftreuegesetz verabschiedet, damit die Steuerzahler nicht über öffentliche Aufträge Lohndumping mitfinanzieren. Wir haben die besonders notleidenden Kommunen finanziell handlungsfähiger gemacht. Wir haben einen historischen Schulkonsens mit der CDU erzielt. Für 20 Monate kann sich das alles sehen lassen.

Sie verteidigen die große Neuverschuldung in Ihrer Zeit mit dem Hinweis, im Bund werde noch mehr gesündigt. Reicht das als Begründung aus?
Kraft: Nein, das sage ich nicht. Wir haben eine fallende Linie bei der Neuverschuldung, der Bund nicht und der CDU-Spitzenkandidat sitzt dort mit am Kabinettstisch. Null neue Schulden bis zum Jahr 2020 haben wir fest im Blick. Das wird nicht einfach, aber das werden wir schaffen.

Aber Ihre Schuldenlinie fällt doch nur deshalb, weil sie ziemlich hoch eingestiegen sind....
Kraft: Nein, das stimmt nicht. Die Vorgängerregierung hatte für 2011 insgesamt 6,5 Milliarden Euro neue Schulden geplant, wir haben die Neuverschuldung auf knapp unter drei Milliarden Euro gesenkt und massive Einsparungen vorgenommen. Im 2011-Haushalt 750 Millionen, jetzt im zweiten war für 2012 eine Milliarde vorgesehen. Das ist doch kein Pappenstiel. Und wir haben 100 Prozent der zusätzlichen Steuereinnahmen in den Abbau der Neuverschuldung gesetzt. Der CDU-Spitzenkandidat will, so lese ich, nur 92 Prozent so einsetzen.

Wie wollen Sie denn 2020 auf null neue Schulden kommen?
Kraft: Über weitere strukturelle Einsparungen, beispielsweise über die Einführung so genannter revolvierender Fonds, so dass einige Förderprogramme nicht mehr nur als Zuschuss gezahlt, sondern zum Teil zurückgezahlt werden müssen. Da kann das Land eine Menge Geld sparen.

Sie sind bekennende Gegnerin des Rasenmähers. Wieso?
Kraft: Ich bin kein Gegner des Rasenmähers, ich glaube nur nicht, dass man mit einem solchen Prinzip über Jahrzehnte beim Sparen vorankommt. Irgendwann ist die Zitrone ausgepresst. Bei den Bezirksregierungen etwa gab es, als wir 2010 angefangen haben, eine Stellenbesetzungsquote von rund 75 Prozent. Das heißt, dass etwa jede 4. Stelle nicht besetzt wurde. Das kann man nicht weiter reduzieren. Darunter droht dann die Bearbeitungsdauer von Anträgen und die Qualität etwa bei Genehmigungsverfahren für Unternehmen zu leiden.

Es fällt auf, dass Sie sich zur Schuldenbremse nur unter der Voraussetzung bekennen, dass mehr Geld aus Berlin kommt.
Kraft: Das stimmt nicht. Die Schuldenbremse steht im Grundgesetz, sie gilt. Gleichzeitig ist aber auch richtig, dass es einen Dreiklang geben muss aus Einsparungen, Investitionen an den richtigen Stellen, beispielsweise bei Bildung und bei den Kommunen, und wir brauchen drittens steigende Einnahmen. Und da ist die SPD insgesamt klar positioniert: Starke Schultern können und müssen mehr tragen. Die Leute, die die Finanzmarktkrise mit verursacht haben, müssen auch bei der Bezahlung, über die Finanzmarkttransaktionssteuer, herangezogen werden.

Kann es sein, dass der Fiskalpakt zur Rettung des Euro Ihnen auf europäischer Ebene noch einen Strich durch die Rechnung macht?
Kraft: Die Finanzminister der Länder haben dazu der Bundesregierung eine Menge Fragen gestellt. Da ist vieles noch ungeklärt.

Also antworten Sie auf die Frage mit Ja...
Kraft: Das kann ich im Moment nicht sagen. Da will ich erst konkrete, nachprüfbare Zahlen haben. Das ist übrigens auch der Unterschied zu den Piraten, die Antworten zum Haushalt verweigern, weil sie angeblich die Zahlen nicht kennen. Die Haushaltsdaten gibt es aber im Internet, bis in alle Details.

Gutes Stichwort: Bis vor kurzem hatten Sie die Aussicht auf eine klare rot-grüne Mehrheit. Jetzt könnten Ihnen die Piraten einen Strich durch die Rechnung machen...
Kraft: Nein, das sehe ich nicht. Wir haben in den letzten Umfragen auf NRW bezogen eine klare Mehrheit.

Sind Sie dennoch sauer auf die Beutezüge der Piraten?
Kraft: Nein. Das ist ein politischer Mitbewerber wie jeder andere auch. Sie haben bei den bisherigen Wahlen viele Nichtwähler motiviert. Das ist für die Demokratie doch insgesamt gut. Wir müssen uns also inhaltlich auseinandersetzen. Deshalb bin ich gespannt, wie sie sich an diesem Wochenende zu den wichtigen landespolitischen Themen positionieren werden.

Piraten als Partner nach der Wahl?
Kraft: Die Frage stellt sich nicht.

Dann stellen wir eben eine andere: Wenn es für Rot-Grün nicht reicht, ist dann die große Koalition die Alternative
Kraft: Mit solchen Eventualitäten beschäftige ich mich jetzt wirklich nicht.

Wie kommen Sie mit Ihrem Herausforderer klar?
Kraft: Wir haben mit ihm den Schulkonsens verhandelt. Ich kann über den Menschen Norbert Röttgen nichts Negatives sagen.

Und über den Politiker?
Kraft: Dass wir unterschiedliche Positionen etwa beim Betreuungsgeld oder bei der Energiewende haben, ist klar.

Da sind Sie sauer auf Berlin...
Kraft: ...aber nicht erst jetzt im Wahlkampf. Wir sind nun mal Energiestandort Nummer eins. Wir brauchen hier dringend einen Masterplan. Das sagt ja auch die Industrie.

Hannelore Kraft als Sprecherin der Wirtschaft?
Kraft: Das ist ein zentrales Interesse des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Energiewende ist wichtig. Sie muss bezahlbar sein, nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die Unternehmen, damit der Standort NRW nicht leidet. Die Energiewende ist eine Riesenchance für NRW. Wir haben allein im vergangenen Jahr 29.000 neue industrielle Arbeitsplätze im Land gewonnen. Die liegen auch in diesen Bereichen. Jedes dritte Getriebe für Windkraftanlagen kommt aus NRW. Für die chemische Industrie gibt es große Chancen bei der Gebäudedämmung.

Sie sagen öffentlich auch: Jetzt ist der Westen dran und meinen die öffentliche Förderung. Wahlkampf auf Kosten des Ostens?
Kraft: Nein, das tue ich nicht. Der Solidarpakt ist bis 2019 vereinbart und wird bleiben. Aber viele Förderprogramme des Bundes etwa für Straßen, Schienen oder Forschungsförderung sind derzeit nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach Himmelsrichtung oder nach politischem Kalkül ausgerichtet. Das kann so nicht bleiben.

Was könnten Sie mit einer stabilen Mehrheit besser machen als mit einer Minderheitsregierung?
Kraft: Es ist uns geglückt, mit wechselnden Mehrheiten zu arbeiten. Das war gut für die Demokratie. Alle mussten mal in den sauren Apfel beißen und Positionen verändern, aber letztlich hat es das Land voran gebracht. Es wäre schön, wenn wir jetzt für den gleichen Kurs eine gute Mehrheit bekämen.

Norbert Röttgen stellt jeden Tag einen Minister für sein Schattenkabinett vor. Machen Sie mit allen Ministern weiter?
Kraft: Ich gehe mit meinem Team in den Wahlkampf.

Was hat Sie in den 20 Monaten besonders bewegt?
Kraft: Es gab schöne Momente wie bei der Kulturhauptstadt Ruhr2010. Da schlug mir nach den schwierigen Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen viel positive Stimmung entgegen. Dann gab es die Katastrophe der Loveparade, die das ganze Land unglaublich berührt hat und immer ein Teil von mir bleiben wird.

Die Schulpolitik ist bei Landtagswahlkämpfen traditionell ein wichtiges Thema. Durch den Schulkonsens mit der CDU ist das diesmal nicht das Streitthema. Welche Schwerpunkte setzt die SPD in den nächsten fünf Jahren?
Kraft: Wir haben ja nur die Schulstruktur-Debatte gelöst. Wir müssen aber weitere zentrale Fragen entscheiden: Wie erhöhen wir die Qualität bei Bildung und Betreuung? Welche Ressourcen werden dort eingesetzt? Wie setzen wir Inklusion, also das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern schrittweise um? Da liegen viele wichtige Entscheidungen vor uns.

Und wo liegen die drängendsten Probleme? Bei G8?
Kraft: Wir haben ja auf G8 reagiert und ein wenig Druck rausgenommen. Wir müssen aber auch insgesamt aus dem System Druck rausnehmen und brauchen mehr individuelle Förderung.

Wegen des Ausbaus der Plätze für unter Dreijährige kommen die über Dreijährigen in den Kindergärten zuweilen zu kurz. Wie wollen Sie das ändern?
Kraft: Der Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige geht nicht zu Lasten der älteren Kindergartenkinder. Allein in diesem Jahr sind gegenüber dem vergangenen Jahr zusätzlich mehr als 16 000 sogenannte U3-Plätze entstanden.

In unserer Region haben Eltern aber genau den Eindruck.
Kraft: Wir haben aber gerade damit alle anderen Kinder nicht zu kurz kommen, für unter Dreijährige zusätzliches Personal zur Verfügung gestellt. Eines meiner Hauptthemen ist, dass wir kein Kind zurücklassen wollen. Deshalb legen wir auch weiterhin dort einen Schwerpunkt.

Wie wollen Sie den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige im Sommer 2013 sicherstellen?
Kraft: Ich bin zuversichtlich, dass wir diese große Kraftanstrengung gemeinsam mit den Kommunen schaffen werden.

Sie wollen die Beitragsfreiheit für den ganzen Kindergarten. Müsste nicht mehr Wert gelegt werden auf die Steigerung der Qualität?
Kraft: Wir verbessern die Qualität, dennoch wollen wir als SPD finanzielle Hürden im Bildungssystem beseitigen. Von dem Ziel werden wir nicht ablassen. In welcher Geschwindigkeit wir die Gebührenfreiheit einführen, hängt von den finanziellen Spielräumen ab.

Können wir sonntags künftig noch einkaufen?
Kraft: Wir haben ja verkaufsoffene Sonntage, und das soll auch nicht gestrichen werden.

Aber Sie wollen Einschränkungen bei den Sonntagsöffnungen.
Kraft: Wenn in einer Großstadt in irgendeinem Stadtteil jeden Sonntag die Geschäfte offen sind, dann ist das kulturell keine gute Entwicklung. Ich glaube, wir tun als Gesellschaft gut daran, dass wir Ruhephasen und Zeiten für Familie und Freunde bewahren. Ich bin da nah bei den Kirchen.

Die Grünen sind mit der Forderung nach einem Tempolimit vorgeprescht. In Programmen der Bundes-SPD steht das auch drin.
Kraft: Ein generelles Tempolimit halte ich für Nordrhein-Westfalen nicht für sachgerecht.

In NRW sagen Sie Nein, auf Bundesebene Ja. Wie passt das zusammen?
Kraft: Wir sind nicht immer mit der Bundespartei einer Meinung. Das halten wir aus. Und das muss auch die Bundespartei aushalten.

Helmut Kohl hatte den Wahlkampfslogan "Weiter so". Könnten Sie sich damit identifizieren?
Kraft: Ich identifiziere mich selten mit Helmut Kohl. Aber ein inhaltliches "Weiter so", das jedoch in stabileren Verhältnissen, das wäre okay.

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