Uraufführung im Kölner Schauspiel Katie Mitchell dramatisiert Friederike Mayröckers "Reise durch die Nacht"

KÖLN · 1984 hat sich Friederike Mayröcker ihre "Reise durch die Nacht" ausgedacht, eine Lebensbeichte als wild strudelnden, dunklen Bewusstseinsstrom.

 Szene mit Julia Wieninger und Nikolaus Benda.

Szene mit Julia Wieninger und Nikolaus Benda.

Foto: Cummiskey

Ihr erdrückendes Gepäck trägt die Reisende innen: scharfzackige Erinnerungssplitter, dazu ein Gefühl vollkommenen Lebensversagens. "Alles verrottet, zerrüttet, verkommen." Diese Zugfahrt von Paris nach Wien wird zum Höllentrip. 1984 hat sich Friederike Mayröcker ihre "Reise durch die Nacht" ausgedacht, eine Lebensbeichte als wild strudelnden, dunklen Bewusstseinsstrom.

Ein uneinnehmbarer Prosatext, doch gerade die haben es der britischen Regisseurin Katie Mitchell angetan. Das geht bei der Dramatisierung nicht ohne Verluste ab. Schon weil Julia Wieninger als Passagierin viel jünger ist, hadert hier kein Mayröcker-Double mit dem erniedrigenden Altern. Und obwohl die Reisende emsig ihre Notizkladde füllt, bleibt die panische Angst der österreichischen Dichterin (Jahrgang 1924) vor dem Verlust ihrer Schreibfähigkeit ausgeblendet.

Die Kölner Uraufführung pflückt sich aus Mayröckers Assoziationsgewitter nur einige Blitze und bündelt sie zu einem Plot, den die Vorlage verweigert, das Drama aber fordert: Gewissermaßen als blinder Passagier ist der Vater der Frau allgegenwärtig an Bord. Ein pedantischer Tyrann, der die Mutter blutig schlug und die damals nicht immer rechtzeitig ins Kinderbett gescheuchte Tochter nun in Rückblenden heimsucht.

Für dieses traumatische Theater-Kino hat Alex Eales die Stirnwand der Halle Kalk horizontal geteilt: Unten steht in voller Saalbreite der reale Waggon, oben braust (in einem vorproduzierten Film) der Nachtexpress durch schemenhafte Landschaften. Vor allem aber wird dort der Schmerz der Reisenden per Live-Video porentief herangezoomt.

Wie in einer Showküche verfolgt man die Zubereitung der Effekte und Emotionen. Unten bläst der Ventilator, oben wehen Wieningers Haare aus dem selbstmörderisch geöffneten Zugfenster. Und wenn oben erleuchtete Abteilfenster des vorbeirasenden Zugs Schlaglichter erzeugen, werden die am stehenden Wagen durch Dreh-Scheinwerfer simuliert.

Schon diese Rückkopplungsvirtuosität fasziniert. In einem Abteil spricht Ruth Maria Kröger jene Texte, die Wieninger denkt, überhaupt öffnen sich verblüffend Teile des Waggons, um Geräuschlabor und andere Innereien einer millimeter- und sekundenpräzis kalkulierten Produktion zu entblößen. All dies alles könnte ein technischer Gimmick bleiben.

Doch ein suggestiver Soundtrack, magische Rätselsätze ("auf dem Rücken des Hundes lag Schnee") und visuelle Schlüsselreize (das Schmetterlings-Mobile im Kinderzimmer, die geschundene Puppe) verdichten sich zu einem halluzinatorischen Kosmos irgendwo zwischen Ingmar Bergman und David Lynch.

Der Vater (Nikolaus Benda) der Reisenden bekommt in ihrem aktuellen Begleiter (Daniel Betts) fast einen Wiedergänger, so dass sich die Verstörte in eine (bei Mayröcker fehlende) Affäre mit dem Schaffner (Renato Schuch) stürzt. Hier für Momente auch körperlich nackt, schafft Julia Wieninger das Kunststück einer seelischen Entblößung voll subtiler Nuancen.

Und selbst wenn sie am Schluss Notizen und Vaterporträt im Zug zurücklässt: Hier gibt es keinen Exorzismus, keine Erlösung, nur einen Blick aus todmüden Augen. In dieser existenziellen Radikalität ist der Abend dann doch ganz nah bei Friederike Mayröcker - und beschert Schauspiel Köln einen großartigen, gefeierten Saisonstart.

Nächste Termine: 19., 20., 23. u. 29.10, je 19.30, 21.10. 16 Uhr, Halle Kalk. Karten.: 0221/22128400

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