Europas Flüchtlingspolitik Eiserner Vorhang

Europa - eine Wertegemeinschaft? Europa - eine solidarische Gemeinschaft? Europa - eine Einheit? Die Antwort nach Monaten der Flüchtlingskrise lautet dreimal nein. Europa, wie es sich derzeit präsentiert, ist keine Wertegemeinschaft, ist nicht solidarisch, ist keine Einheit. Wertegemeinschaft zu sein, hieße im konkreten Fall: Die Not der Flüchtlinge zu lindern, ist wichtiger als alles andere.

Das demonstrative Weggucken einzelner Staaten an der Balkanroute ist eine Schande für Europa. Menschenwürde, fest verankert in den Verfassungen Europas, steht dort nur auf dem Papier. Und wenn ein Politiker wie der Ungar Victor Orbàn in Brüssel zynisch-stolz verkündet, sein Land liege nicht "mehr an der Route", er sei deshalb nur als "Beobachter" da, belegt dies, wie unsolidarisch die EU derzeit ist. Dankbarkeit - wohl wahr - ist kein Kriterium von Politik. Aber es muss erlaubt sein, die mittel- und osteuropäischen Staaten daran zu erinnern, wie viel Solidarität sie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erfahren haben.

Der Eiserne Vorhang ist vor einem Vierteljahrhundert gefallen, jetzt wird er wieder hochgezogen, gleich zweifach. An den Außengrenzen der EU - und darauf ist sie auch noch stolz. Und von Nord nach Süd, ziemlich genau dort, wo der Vorhang einst hing. Das Wahlergebnis des Sonntags in Polen ist dafür genauso Beleg wie Orbáns Auftreten am selben Tag in Brüssel.

Eine EU jedoch, die keine gemeinsamen Werte mehr vertritt, die unsolidarisch ist, verrät ihre Idee und riskiert ihre Einheit. Die mangelnde Einheit ist es übrigens, die mitverantwortlich ist für das Chaos, das derzeit die Lage prägt. In den 90er Jahren, als es ebenfalls eine nennenswerte Fluchtbewegung nach Europa (und viel mehr Ablehnung in der Bevölkerung) gab, haben die Mitgliedstaaten verhindert, dass eine gemeinsame Asylpolitik geschaffen wurde. In jenen 90er Jahren wurde es in Deutschland versäumt, ein stimmiges Einwanderungskonzept in Gesetzesform zu gießen.

Jetzt suchen sich die Menschen ihren Weg, weitgehend unkontrolliert und mit dem eindeutigen Ziel: Europa. Jetzt wird geflickt, was das Zeug hält. Hier ein Zaun, da ein paar hundert zusätzliche Grenzbeamte. Millionen für die Türkei, damit sie bei der Abschottung hilft.

Das Kernproblem ist damit nicht zu lösen: Will Europa Festung sein oder neue Heimat? Natürlich nicht für alle, aber eben auch nicht nur für Bürgerkriegsflüchtlinge. Auch da werden neue Illusionen geweckt. Wer kann denn die Außengrenzen hermetisch abriegeln? Wie soll es gelingen, Asylbegehren schnell zu entscheiden, wenn allein in Deutschland mehrere hunderttausend Anträge (aus ruhigeren Zeiten) unerledigt geblieben sind? Ganz zu schweigen von der Bekämpfung der Fluchtursachen... Europa hat die Größe der Herausforderung offenbar immer noch nicht erkannt: Meistert die EU sie nicht, ist die Union selbst in Gefahr.

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