Lisa Schulte: Fernbedienung gegen die Bilder im Kopf

Die Beraterin im Frauenzentrum Bad Honnef, erklärt im GA-Interview, wie sie Missbrauchsopfern hilft

Der sexuelle Missbrauch in Institutionen wie Schulen und Vereinen ist in den vergangenen Monaten zum gesellschaftlichen Thema geworden. Nach wie vor ist es jedoch häufig das eigene Heim, die Familie, in der es zu sexuellen Übergriffen kommt. Mit Lisa Schulte, Beraterin im Frauenzentrum Bad Honnef/Königswinter, sprach Annette Claus.

General-Anzeiger: Wer sucht Ihre Beratung?

Lisa Schulte: Frauen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt haben, also beispielsweise sexuell missbraucht worden sind - wobei der Begriff "Missbrauch" nicht sehr passend ist.

GA: Weil er von einem "richtigen Gebrauch" ausgeht.

Schulte: Genau. Und es kommen Frauen, die als Erwachsene vergewaltigt worden sind. Manchmal - ganz selten - von einem Fremdtäter. Häufiger befinden sie sich in einer Trennungssituation von ihrem Partner und werden dann vergewaltigt. Oft in Kombination mit körperlicher Gewalt. Außerdem wenden sich Frauen an uns, die in der Schule oder am Arbeitsplatz sexuell belästigt wurden.

GA: Das Thema sexuelle Gewalt ist seit einiger Zeit in den Medien sehr präsent. Wenden sich jetzt mehr Frauen an Sie?

Schulte: Tatsächlich ist das unsere Erfahrung. Es kann sein, dass sich Betroffene vor dem Hintergrund der vermehrten Berichterstattung entschieden haben, jetzt hole ich mir Hilfe. Manche betroffene Frauen erleben durch die Berichte so etwas wie ein neues Trauma, werden an ihre eigenen Erlebnisse erinnert. Ich glaube, dass das Bedürfnis nach einer Begleitung durch die Berichterstattung größer wird - was nicht unbedingt schlecht ist. Es kann auch sein, dass Symptome erneut auftreten, Dinge, die die Betroffenen vielleicht schon bewältigt hatten.

GA: Das wäre ja für diese Menschen eine schädliche Folge. Umgekehrt erfahren aber vielleicht manche Betroffene erst durch die Berichterstattung, dass nicht sie das Problem waren, sondern der Täter - und nehmen erstmals Hilfe in Anspruch.

Schulte: Genau. Sie erkennen, da ist mir Unrecht passiert. Sie nehmen sich ernst, trauen sich, erinnern sich.

GA: Würden Sie Opfern sexueller Gewalt grundsätzlich raten, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen oder ist das etwas, was man mit sich selber abmachen kann?

Schulte: Viele betroffene Frauen machen das mit sich selbst ab. Denken Sie an die vielen Vergewaltigungen in und nach dem Zweiten Weltkrieg. Generell würde ich sagen, es kommt darauf an, wie sehr eine Frau darunter leidet. Ob sie das Gefühl hat, sie stößt immer wieder auf Probleme, die damit zusammenhängen. Nicht alle Frauen, die traumatisiert worden sind, entwickeln Folgestörungen.

GA: Was können das für Störungen sein?

Schulte: Das ist ganz vielfältig. Es gibt die posttraumatische Stressstörung, die kann sich ausdrücken in einer permanenten Übererregung, weil die Erfahrung des sexuellen Übergriffs ein unglaublicher Stress war, und dieser Stress bleibt.

Das heißt, die Frauen sind schon bei einer kleinen Anforderung ganz aufgeregt, auf einem ganz hohen Erregungslevel. Sie haben zum Beispiel Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen, einen beschleunigten Puls, sind permanent wachsam, weil sie sich ständig gefährdet fühlen.

Dieser hohe Stresslevel kann auf Dauer auch zu Bluthochdruck führen. Eine andere Folge kann Vermeidung sein. Da wird alles, was an das traumatische Ereignis erinnert, wie Orte, Situationen, Personen, Gefühle und Gedanken vermieden.

GA: Das könnte heißen, dass betroffenen Frauen Sexualität an sich verleidet ist.

Schulte: Genau, das kann auch sein. Manche betroffene Frauen erzählen, dass sie jegliche Sexualität als Übergriff empfinden. Sie wollen damit gar nichts mehr zu tun haben. Und das Wiedererleben ist auch ein wichtiges Symptom. Das sind sich immer wieder aufdrängende innere Bilder, Geräusche oder Gedanken, auch Alpträume, die mit dem Trauma verbunden sind.

Es gibt noch unzählige weitere mögliche Folgen sexueller Gewalt, zum Beispiel chronische Schmerzen ohne körperliche Ursache. Essstörungen sind typisch: sich einen Schutz anzuessen oder das Gegenteil: Magersucht oder Bulimie. Es geht darum, den Körper zu kontrollieren.

GA: Also ein Gefühl der Kontrolle zu haben.

Schulte: Ja, denn bei sexualisierter Gewalt hat die Frau keine Kontrolle, sie fühlt sich ohnmächtig, hat das Gefühl, sich nicht wehren zu können. Das ist das Schlimme. Wer sich wehren konnte, abhauen konnte, leidet oft nicht unter Folgestörungen. Folgestörungen können auch Angststörungen oder Depressionen sein.

GA: Wie helfen Sie jemandem, der sich an Sie wendet?

Schulte: Das hängt von den Bedürfnissen des Mädchens, der Frau ab. Es geht darum, dass sie wieder ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle erleben kann. Und an erster Stelle steht natürlich, dass die Situation heute tatsächlich sicher ist.

GA: Wenn eine Frau aktuell unter Gewalt leidet, versuchen Sie, sie aus dieser Situation herauszuholen?

Schulte: Wir unterstützen sie, damit sie Stärke entwickeln kann zu gehen. Man kann natürlich nicht das Trauma aufarbeiten, wenn sie noch mitten drin ist. Erst wenn sie dann sicher ist, eine eigene Wohnung hat, kann man mit ihr gemeinsam gucken, was sie für Symptome hat, was sie braucht, um diese zu bewältigen.

GA: Arbeiten Sie mit Frauenhäusern zusammen?

Schulte: Ja. Seit einigen Jahren gibt es zwar das Gewaltschutzgesetz mit der Möglichkeit, den Mann der Wohnung zu verweisen. Aber nicht alle wollen das nutzen, dann ist ein Frauenhaus - im Rhein-Sieg-Kreis in Troisdorf und Sankt Augustin - eine Möglichkeit.

GA: Was kann den traumatisierten Frauen helfen?

Schulte: Es gibt verschiedene Techniken, mit denen die Frauen sich selbst beruhigen können. Zum Beispiel angenehme Bilder.

GA: Also eine Situation, in der sie sich wohl gefühlt haben.

Schulte: Oder eine Situation aus der Fantasie.

GA: Bleiben die schrecklichen Bilder nicht trotzdem?

Schulte: Auch dafür gibt es Techniken. Wenn Frauen von Schreckensbildern überrollt werden, helfen diese Techniken, die Bilder auf Distanz zu bringen.

GA: Wie muss ich mir das vorstellen?

Schulte: Die Frauen lernen, von außen als Beobachterin auf die Situation zu schauen. Zum Beispiel, indem sie die Bilder der Tat auf eine imaginäre Leinwand projizieren. Mit einer imaginären Fernbedienung in der Hand können sie gestalten: das Bild kleiner machen und es dann beispielsweise in einen Tresor stecken.

Wenn die Schreckensbilder unkontrolliert kommen, fühlt sich das an, als würden die Frauen das Trauma aktuell erleben. Alle Frauen, die zu uns kommen, haben es geschafft, das Trauma zu überleben. Wir versuchen zu schauen: Wie haben sie das geschafft, was haben sie für Strategien entwickelt? Wir schauen dann, welche davon noch hilfreich sind. Und wie können wir ihre Stärke unterstützen?

GA: Ist es notwendig, dass die Frauen ihr Trauma erzählen, um es zu bewältigen?

Schulte: Nicht unbedingt. Und in einem ist sich die Traumaforschung inzwischen einig: Das Trauma einfach immer wieder zu erzählen und damit immer wieder neu zu durchleben, hilft nicht, es zu verarbeiten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort