WM 2018 Das Löw'sche Konstrukt bröckelt

Moskau · Nach der Niederlage gegen Mexiko wird deutlich: Das Löw‘sche Konstrukt leidet unter einigen Rissen. Dennoch ist die Qualität im Kader immer noch exquisit. Die Partie am Samstag wird zeigen, ob Löw seine Strategie ändert.

Es fällt nicht schwer zu verstehen, dass sich Joachim Löw ganz prächtig gefühlt haben muss im Sommer vor einem Jahr. Er verbrachte einige sehr angenehme Tage in Sotschi bei angemessen warmem Wetter, ohne diese erdrückende Schwüle, direkt am Schwarzen Meer. Tage, in denen der Trainer der Nation wieder mehr der Trainer sein durfte, der er einmal war. Löw war ja schon einige Zeit dem Status des hart schaffenden Fußballlehrers entwachsen. Löw, dem eine Leichtigkeit nachgesagt wird, die die Erdanziehungskraft außer Kraft zu setzen scheint und die ihn geradezu schweben lässt über irdischen Gegebenheiten, dieser smarte Mann aus dem Breisgau erweckte in diesen Tagen von Sotschi tatsächlich den Eindruck, als könne er über dem Schwarzen Meer wandeln.

Nicht etwa, weil er nach dem Triumph von Rio mal wieder ganz oben stand auf dem Treppchen mit einer deutschen Mannschaft am Ende des Confed Cups; das interessierte ihn ein Jahr vor dem Großprojekt Titelverteidigung 2018 allenfalls am Rande. Löw konnte seinem grundlegenden Verlangen nachgehen, eine Mannschaft zu formen. In Sotschi, das war deutlich zu sehen, durfte er, wie es so schön heißt, wieder mehr „coachen“. Oder, wie es Teammanager Oliver Bierhoff damals ausdrückte, Jogi sei wieder „richtig nah dran am Mann“, konnte „etwas entwickeln“ mit dieser jungen Auswahl ohne einige gestandene Weltmeister.

Seit dem Titelgewinn in Brasilien hatte Löw seine Fähigkeiten, einen Strukturwandel einleiten und begleiten zu können, ja etwas vernachlässigt. Zuletzt moderierte er eine Mannschaft, die sich 2014 zur Nummer eins aufschwang und deren Zyklus 2010 begann. Eben jene Mannschaft, die am Sonntag beim 0:1 zum WM-Auftakt gegen Mexiko eine ernüchternde, ja mitunter erschreckende Vorstellung bot. Nichts war zu erkennen von der erhofften explosiven Mischung aus gestandenen Kräften und hungrigen Fußballern, die sich aus Teilen des Mini-WM-Kaders und der erfolgreichen U21 des DFB zusammensetzen sollte. Nichts war zu sehen von Eroberungsgeist und Esprit, von Tempo und Temperament. Löw hatte sich eben entschlossen, seinem Hang und Drang zur Loyalität nachzugeben. Die Mannschaft wirkte alt und schwer und erschöpft wie eine schnurrende Katze, die es sich vor dem Ofen bequem macht.

Löw hat die richtige Rezeptur noch nicht gefunden

Das Löw‘sche Konstrukt, das hatte sich bereits in der Vorbereitung angedeutet und gegen Mexiko fortgesetzt, leidet unter einigen Rissen. Die tragenden Teile bröckeln munter vor sich hin. Gestalter Toni Kroos wirkte überspielt. Khedira fahrig. Die defensive Schaltzentrale im Mittelfeld erwies sich als Eingangshalle für die rasanten Angriffe der Mexikaner. Es fehlte an Dynamik. Thomas Müller hingegen hatte seine stärksten Szenen, wenn er mit dem Schiedsrichter diskutierte. Und Mesut Özil, von Erdogans Schatten verfolgt? Tauchte zu häufig ab.

Der Bundestrainer hatte acht Weltmeister in der Startelf aufgeboten. Um Torhüter Manuel Neuer, mit Abstrichen Julian Draxler sowie Jerome Boateng musste man sich keine größeren Sorgen machen, um alle anderen schon. Die mit fast 28 Jahren im Durchschnitt ältesten deutschen WM-Elf seit dem verlorenen Finale 2002 hat, wie es scheint, ihren Zenit nach 2014 verlassen. Joachim Löw, nach der Auftaktniederlage selbst erschöpft, rechtfertigte sich. „Wir haben eine relativ junge Mannschaft, keine zu alte, davon sind wir weit entfernt", sagte er: „Die, die schon länger dabei und unser Gerüst sind, verfügen über viel Erfahrung und hohe Qualität, auch wenn man das nicht so gesehen hat."

Reichtum an Hochbegabten schien unermesslich

Dabei war das Fenster für eine verheißungsvolle Zukunft sperrangelweit geöffnet, im Sommer von Sotschi 2017. Der Reichtum an Hochbegabten schien unermesslich. Vergleiche wurden herangezogen mit Sportarten, die seit jeher von den Deutschen mitgeprägt werden: Bob Deutschland 1, Bob Deutschland 2, Bob Deutschland 3 – die Beherrschung des Weltfußballs schien gesichert. Der Start in Russland zeigt aber: Löw hat die Rezeptur für das richtige Gemisch noch nicht gefunden.

Klar ist aber auch: Die Qualität im Kader ist immer noch exquisit. Die Partie am Samstag gegen Schweden wird zeigen, ob Braumeister Löw andere Zutaten wählt. Eine weitere Niederlage würde schon fast das vorzeitige Aus bedeuten. Joachim Löw aber ist fest entschlossen, diesen Gedanken nicht zuzulassen. „Uns wird das nicht passieren, wir werden es schaffen“, sagte er. „Wir haben alle Möglichkeiten, das zu korrigieren. Aber wir müssen Korrekturen anbringen." Unterstützung erhält er von Mario Gomez. „Man wird nicht im ersten Spiel Weltmeister“, sagte der Stuttgarter. An diesem Dienstag tritt die Mannschaft die Reise in eine ungewisse Zukunft an. Immerhin aber geht es wieder nach Sotschi. Auch für Löw. Gut möglich, dass er sich am Ende nicht mehr ganz so prächtig fühlt, wie noch vor einem Jahr.

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