Alhassane Baldé Folge 23: "Ohne Sport wäre ich nicht der, der ich bin"

BONN · Rennrollstuhlfahrer Alhassane Baldé ist seit seiner Geburt querschnittsgelähmt. Durch seine Leidenschaft hat er viele Freundschaften geschlossen und die Welt kennengelernt.

 Fokussiert und konzentriert: Alhassane Baldé bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in diesem Jahr in Doha/Katar.

Fokussiert und konzentriert: Alhassane Baldé bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in diesem Jahr in Doha/Katar.

Foto: IPC

Ein Messe-Gag hat Alhassane Baldés Leben für immer verändert. Als Fünfjähriger entdeckte der Bonner auf der "Reha-Care" in Düsseldorf einen Mini-Rennrollstuhl und war sofort fasziniert. "Vier Tage in Folge habe ich meine Eltern gezwungen, wieder dorthin zu fahren", erzählt der heute 29-Jährige schmunzelnd. Zu seinem sechsten Geburtstag schenkte ihm Tüftler Errol Marklein das Einzelstück und wurde sein erster Trainer - der Beginn einer erfolgreichen Karriere. Ein Vierteljahrhundert später peilt der Leistungssportler seine dritte Teilnahme an Paralympischen Spielen an: Rio 2016 lautet sein großes Ziel. Das ist aber nicht alles. "Ohne den Sport wäre ich nicht der Mensch, der ich bin, der alles im Griff und Spaß am Leben hat", sagt Baldé.

Er ist seit seiner Geburt 1985 in Conakry/Guinea ab dem achten Brustwirbel querschnittsgelähmt, da dem Arzt bei der Entbindung von seinem Zwillingsbruder und ihm ein Fehler unterlief. Mit neun Monaten kam Baldé erstmals für eine Behandlung aus Westafrika nach Deutschland, wo sein Onkel Moustapha zu jener Zeit studierte. Als er fünf Jahre alt war, adoptierten ihn sein Onkel und dessen Frau Veronika, die er heute seine Eltern nennt. "Ich hatte großes Glück, denn in Guinea hätte ich keine Überlebenschance gehabt", sagt er.

Die Familie lebte zunächst in Düsseldorf. Im Kindergarten robbte Baldé mit seinen Spielgefährten über den Boden und kletterte auf Bäume. "Ich hatte nie das Gefühl, dass ich durch meine Behinderung ausgegrenzt wurde", sagt er rückblickend. Doch durch den schnittigen Mini-Rollstuhl boten sich ihm plötzlich ganz andere Möglichkeiten. Er spielte Basketball und Tennis. Versuchte sich auch beim Wasserski.

"Der Sport hat mir die Möglichkeit gegeben, mich auszutoben und am Leben teilzuhaben", erläutert er. Zudem förderte die Bewegung seine Gesundheit, denn er leidet an Skoliose, einer Wirbelsäulenverkrümmung, die ihn sonst mehr einschränken würde. "Der Rollstuhl bedeutet für mich Mobilität, ist für mich ein Spaßgerät. Durch ihn erlange ich Flexibilität und Unabhängigkeit. Er ersetzt meine Beine", betont der Sportler.

Das Rennrollstuhlfahren war für Baldé zunächst nur ein Sport unter vielen, doch es rückte mit der Zeit immer mehr in den Vordergrund. Dort war er nur auf sich selbst angewiesen und konnte seinem ehrgeizigen Ziel nachjagen: der Teilnahme an den Paralympischen Spielen 2004 in Athen. Dass er dort hinwollte, stand für ihn fest, seit er die Spiele in Atlanta 1996 im Fernsehen verfolgt hatte; seine Mutter erlebte das Großereignis dank eines Lotteriegewinns sogar im Stadion. Mit dem Umzug der inzwischen fünfköpfigen Familie nach Ahaus begann für den elfjährigen Alhassane zugleich die professionelle Vorbereitung - von der Sponsorensuche bis hin zum Training.

Sportliche Konkurrenz fand er allerdings nur im Ausland, in Deutschland widmeten sich die meisten Jugendlichen im Rollstuhl Mannschaftssportarten wie Basketball. Schon als Zwölfjähriger reiste er erstmals zu Juniorenwettkämpfen in die USA, später auch nach Australien und Neuseeland. Er sah Seattle, New York und Sydney. Endlich konnte er sich mit Gleichaltrigen messen. "Ich habe aber auch viele Freundschaften geknüpft und meinen Horizont erweitert", sagt Baldé. Die Teilnahme am Paralympischen Jugendlager in Sydney 2000 bestärkte ihn in seinem Wunsch, selbst einmal bei dem Großereignis dabei zu sein.

Das gelang. Als 18-Jähriger startete er in Athen 2004. "Ein gigantisches Erlebnis", erzählt er. Auf der Tribüne jubelten ihm Familie, Freunde und Sponsoren zu. Der Lohn harter Arbeit und für eine Zeit, die für Alhassanes zwei jüngere Geschwister nicht immer einfach war, da das Familienleben stark auf sein Training ausgerichtet war. Mit dem Abitur verschob sich dann allerdings Baldés Fokus. Er zog nach Mannheim und studierte "Duales Arbeitsmarktmanagement" an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit - der Sport rückte in den Hintergrund.

"Ich wollte das Leben kennenlernen, feiern und tanzen. All das, wofür ich vorher keine Zeit hatte, weil ich in meiner ganzen Jugend Leistungssport betrieben hatte", erzählt er. Für die Spiele in Peking 2008 qualifizierte er sich trotzdem, schied allerdings schon in den Vorläufen aus. Die Folge: Frust und Zweifel. Erst mit dem Studienabschluss und dem berufsbedingten Umzug nach Bonn kehrte die Motivation zurück. "Ich habe meine internationalen Freunde, das Reisen und die Wettkämpfe vermisst", sagt er.

Ein Jahr trainierte er größtenteils alleine, dann fand er bei den Schwimm- und Sportfreunden (SSF) Bonn und mit Trainer Alois Gmeiner eine neue sportliche Heimat, darüber hinaus gewann er auch neue Sponsoren. Die Qualifikation für die Spiele in London 2012 verpasste er noch um zwei Hundertstelsekunden. In Rio 2016 will Baldé aber unbedingt wieder angreifen. "Zu 90 Prozent werde ich dabei sein", sagt er selbstbewusst. Alle Qualifikationskriterien sind dieselben wie für die Weltmeisterschaft in diesem Jahr - und die hat er schließlich geknackt. Abgerechnet wird im Sommer, etwa zwei Monate vor den Paraympics (7. bis 18. September) wird Baldé wissen, ob er seine dritten Spiele als Aktiver erleben darf.

"Alhassane ordnet sein privates und berufliches Leben dem Sport unter, wenigstens bis nach Rio 2016", sagt Gmeiner, der inzwischen seit vier Jahren mit ihm zusammenarbeitet. Was das bedeutet, erklärt der Coach so: "Verzicht auf die schnelle berufliche Karriere und Einschränkungen im Umgang mit Freunden und Lebensgefährtin." Diesen Preis zahlt Baldé gerne. Der Sport habe ihn zu dem gemacht, der er heute ist, glaubt Gmeiner. Heißt auf die sportliche Karriere bezogen: "Einer der weltbesten Fahrer, der in diesem Jahr zwei deutsche Rekorde gefahren ist und am Ende des Jahres an Platz sechs und sieben der Weltrangliste steht", sagt der Trainer. Und: "Einer, der vielen jugendlichen Sportlern, ob behindert oder nichtbehindert, als Vorbild dient."

Bis Weihnachten urlaubt der Bonner nun mit Lebensgefährtin Andrea Hofstetter. Dann richtet sich sein Blick auf Rio: Anfang des Jahres bekommt Baldé einen sponsorenfinanzierten neuen Rennrollstuhl und neue Handschuhe. Die Intensivvorbereitung für den paralympischen Medaillentraum kann beginnen.

Bald 30, aber noch kein Gedanke ans Aufhören

Ende Dezember feiert Alhassane Baldé seinen 30. Geburtstag - für einen Rennrollstuhlsportler kein Alter. "Die beste Phase kommt noch", sagt er. Führende Konkurrenten wie Rawat Tana und David Weir seien 39 und 37.

Wie lange er den Leistungssport nach Rio noch betreiben will, weiß Baldé trotzdem nicht. Ans Aufhören jedoch verschwendet er noch keinen Gedanken. Egal, ob es nach 2004 und 2008 mit der dritten Paralympics-Teilnahme in Rio de Janeiro klappt.

Der Bonner lebt seinen Sport mit Herz und Verstand. Das Thema Inklusion und die Förderung des Behindertensports sind ihm grundsätzlich sehr wichtig. Aber: "Der Rennrollstuhlsport hat keine Lobby", bedauert er. Weltweit gebe es nur auf der Marathondistanz eine Reputation, die mit der der nicht-behinderten Sportler vergleichbar sei. Es handele sich um Spitzensport, es mangele aber an Sponsoren und guter Organisation. "Es müssen bessere Rahmenbedingungen her", fordert Baldé.

Und man dürfe nicht nur in Medaillen denken, die bei der weltweiten Leistungsdichte in seiner Sportart schwer zu erreichen seien, kritisiert der Bonner die Funktionäre.

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