Olympische Spiele Die Antwort lautet: Jein

KÖLN · Auch eine Studie kann nicht klären, ob Markus Rehm durch seine Unterschenkel-Prothese Vorteile beim Weitsprung hat.

Auf dem Weg zum Pressekonferenz-Podium, das von 20 Filmkameras ins Visier genommen wurde, kam Markus Rehm gestern an den Olympiafackeln vorbei, die im Deutschen Olympia- und Sportmuseum in Köln ausgestellt sind – lückenlos von Berlin 1936 über London 1948 bis Peking 2008. In ihrer Nische vor der Olympia-Lounge stehen die Exponate in Glasvitrinen – der Ausstellungsplatz wirkt wie eine eigene, abgeriegelte Welt.

So muss Rehm der Olympische Kosmos vorkommen. Nach wie vor, denn auch die von internationalen Fernsehteams und Nachrichtenagenturen begleitete Vorstellung einer Studie zu Vor- und Nachteilen unterschenkelamputierter Weitspringer brachte keine eindeutige Antwort auf die entscheidende Frage: Hat der Inhaber des Behinderten-Weltrekordes durch den Katapult-Effekt seiner Karbon-Prothese einen unerlaubten Vorteil gegenüber Nichtbehinderten?

Die Wissenschaftler antworten – wie so oft – mit Jein. „Zum jetzigen Zeitpunkt kann nicht eindeutig festgestellt werden, ob seine Prothese ihm beim Weitsprung in der Gesamtbetrachtung einen Vorteil bietet“, sagte Prof. Dr. Wolfgang Potthast von der Deutschen Sporthochschule Köln. Das Institut für Biomechanik und Orthopädie hatte gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Tokio und Boulder/Colorado die einen sechsstelligen Betrag teure Studie durchgeführt. Die Probanden: zehn Weitspringer, darunter drei der weltbesten mit Unterschenkelamputation inklusive Rehm sowie sieben international erstklassige ohne Behinderung. Die wissenschaftliche Schlussfolgerung ist unter dem Strich wenig revolutionär: Nichtbehinderte haben Vorteile im Anlauf, Prothesenträger im Absprung. So ist es halt.

Der Studie fehlt also eine Signalwirkung im Sinne Rehms. Zumindest gemessen am aktuellen Regelwerk des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF. Der 27-Jährige hatte gehofft, vor den Paralympics (7. bis 18. September) auch an den Spielen der Nichtbehinderten (5. bis 21. August) in Rio de Janeiro teilnehmen zu dürfen.

In einem erst im November 2015 in Kraft getretenen Paragrafen hat die IAAF die Beweislast umgekehrt, um die Teilnahme von Paralympics-Sportlern wie 2012 die des Südafrikaners Oscar Pistorius zu erschweren. Prothesen sind demnach verbotene Hilfsmittel – es sei denn, der Athlet kann „alle Wahrscheinlichkeiten abwägend begründen, dass ihm das Hilfsmittel keinen Vorteil gegenüber anderen Athleten verschafft.“ So steht es in der IAAF-Regel 44. Rehms Olympia-Start ist somit in weite Ferne gerückt, trotz sportlich erfüllter Norm.

Wie es auch kommt: Der Leverkusener präsentierte sich einmal mehr als untadeliger Sportsmann. „Ich möchte keinen Vorteil haben, nur Klarheit“, sagte der vor allem über die Blockadehaltung der IAAF verärgerte Rehm („Gespräche hat man bislang erfolgreich vermieden“). Jetzt sieht der Paralympics-Sieger von London den Weltverband am Zug: „Mit der Studie habe ich den ersten Schritt getan. Jetzt erwarte ich, dass die Verbände sich öffnen.“

Gehör zu finden, ist für den Behinderten-Weltrekordler eine Frage des Respekts: „Es läuft auf die Grundfrage hinaus: Warum darf ein paralympischer Athlet keine Ausnahmeleistungen bringen?“ Auch Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS), nimmt den Weltverband in die Pflicht. „Es gibt kein Ergebnis, das für einen Vorteil von Markus Rehm spricht. Die IAAF muss sich bewegen“, fordert Beucher und fragt provokativ: „Oder will man vielleicht keine behinderten Athleten in der vermeintlich heilen Welt der gesunden Sportler?“ Eine Frage, in der Sebastian Coe als Präsident des von Korruptions- und Dopingkrisen erschütterten Weltverbandes Imagepunkte sammeln könnte. Doch selbst das motiviert die Altherren-Riege nicht zur guten Tat. Rehm könnte versuchen, sein Olympia-Startrecht einzuklagen wie dies Prothesen-Sprinter Pistorius vor dem internationalen Sportgerichtshof CAS mit Erfolg vor den Spielen 2008 in Peking tat – Pistorius qualifizierte sich jedoch nicht, startete aber 2012 in London in der südafrikanischen 4x400-Meter-Staffel. Doch klagen will Rehm nicht um jeden Preis: „Das ist nicht mein erster Weg.“ Ausgeschlossen aber hat er es nicht – und dürfte dabei sogar auf den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) bauen. „Wir sind weder gegen die Studie noch gegen den Athleten. Es gibt keine Diskriminierung durch den DLV“, stellte dessen Inklusionsbeauftragter Gerhard Janetzky klar. Und: „Wir werden Markus Rehm weiter unterstützen.“

Schon wegen der Studie habe er „viel Gegenwind“ gespürt, sagte der Betroffene. Meinte Anfeindungen, hier und da auch aus Kreisen nichtbehinderter Athleten, die ihm medienwirksame Auftritte neideten. Auch aus seinem Verein, dem in Leichtathletik-Deutschland führenden TSV Bayer 04 Leverkusen, gab es solche Stimmen.

Mehrheitlich spürt Rehm jedoch die Solidarität aus Sportlerkreisen. Gegen einen Start „außerhalb der Wertung“ hätten die meisten nichts einzuwenden – so wie bei den deutschen Meisterschaften 2015 in Nürnberg praktiziert und für die DM 2016 in Kassel geplant. Auf dieses gleichzeitige Mit- und Nebeneinander haben sich der DLV und Rehm verständigt. Ein Modell könnte das auch für die Olympischen Spiele sein.

„Mir geht es nicht darum, eine Medaille zu gewinnen“, stellt Rehm klar: „Ich sehe das übergeordnete Ziel, Werbung für meinen Sport zu machen. Und den paralympischen mit dem olympischen Sport zusammen zu bringen.“ Ideen dafür hat er auch, zum Beispiel könnte er sich bei Olympia „eine Staffel vorstellen, in der behinderte und nichtbehinderte Athleten gemeinsam starten“.

Übrigens sollen im Kölner Sportmuseum künftig auch Memorabilien des paralympischen Sports gezeigt werden. Markus Rehm hätte sicher nichts dagegen, wenn eine seiner Prothesen neben einer Olympiafackel aus Rio ausgestellt würde.

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