Kriegsende in Bonn Kohlenklau an der Viktoriabrücke

BONN · Während in Berlin noch gekämpft wird, haben sich die Bonner bereits an das Leben nach dem "Dritten Reich" gewöhnt. Zunächst aber heißt es, den alltäglichen Mangel zu bewältigen. An der Kasernenstraße blüht der Schwarzmarkt, der Alte Friedhof dient den Amerikanern als Park zum Lustwandeln. Und für wenige Wochen ist Bonn die Hauptstadt der Rheinprovinz.

Dachpappe gegen Kartoffeln, Kaffee gegen Eier, Fahrradspeichen gegen Brot. An Währungen ist kein Mangel im Frühjahr 1945 in Bonn. Die Wechselkurse sind so flüchtig wie die Aprilsonne.

Seit dem Einmarsch der Amerikaner am 8. März schweigen am Rhein die Waffen. An den Seelower Höhen und rund um Berlin wird noch erbittert gekämpft und tausendfach gestorben, da ist das Rheinland bereits in einer neuen Epoche angekommen.

Was nicht bedeutet, dass Normalität eingetreten ist. Wer mag, kann auch in Bonn noch am 19. April den Glauben vom Endsieg teilen: "Jetzt ist die Stunde der höchsten Bewährung gekommen", verbreitet Joseph Goebbels per Rundfunkansprache seine Propaganda.

Wie weit sie von jeder Realität entkoppelt ist, weiß in der früheren Universitätsstadt des Ministers jeder, ohne beim Radiohören aus dem Fenster schauen zu müssen. Seit sechs Wochen sind die Amerikaner in Bonn.

Ob im warmen Frühling 1945 in Bonn irgendjemandem zu Maifeierlichkeiten zumute ist, wird nicht überliefert. In einem Halbkreis rund um die Rheinbrücke liegt die Stadt seit dem schweren Angriff vom 18. Oktober 1944 in Trümmern.

Die Ruinenlandschaft zieht sich vom Rosental im Norden über das Bahnhofsviertel entlang der Eisenbahnstrecke bis etwa zur Weberstraße und Zweiten Fährgasse. Längst nicht alle Straßen sind wieder passierbar, auch das Strom- und Gasnetz funktioniert lange nicht.

Der Schiffsverkehr ist durch Behelfsbrücken blockiert. Mehr als 1500 zivile Opfer des Luftkriegs, mehr als 2700 gefallene Soldaten, 1750 Kriegerwitwen, 1500 Waisen und Halbwaisen sowie 3600 Kriegsversehrte: So liest sich die Schreckensbilanz in den Bevölkerungsstatistiken allein für Bonn - die noch eigenständigen Städte Beuel und Bad Godesberg nicht mitgezählt. Evakuierungen haben die Einwohnerzahl bis Mai 1945 halbiert. 50 000 Menschen leben noch in Bonn.

Und für sie beginnt mit der neuen Ära erst einmal eine Zeit der Not. Weil die bekanntlich erfinderisch macht, wird im "Nichts" improvisiert. Was es nicht gibt, wird auf dem Schwarzmarkt organisiert und getauscht. Zum Hauptumschlagplatz wird bald die Kasernenstraße, wo die "Ami-Zigarette" anerkannte Grundwährung wird.

Während in den Dörfern Frankreichs junge Frauen zu Tausenden mit geschorenen Haaren und zerrissenen Kleidern als "Deutschenflittchen" durch die Straßen getrieben werden, bietet sich auf dem Alten Friedhof in Bonn das andere Bild: Amerikanische Soldaten nutzen ihn zum Lustwandeln mit bönnschen Mädchen und anderen Lustbarkeiten. "Von Flaschenscherben übersät" sei er gewesen, heißt es später.

Fast in Sichtweite herrscht "König Kohlenklau". Zwei Gleise unterhalb der zerstörten Viktoriabrücke sind notdürftig geflickt worden. Oft zwingt ein Vorsignal die Züge aus Richtung Köln hier zum Halten.

Und schon folgt unter Missachtung der geltenden Ausgangssperre ein Ritual: Ohne Rücksicht auf die damit verbundene Gefahr entern Dutzende die Züge und werfen an Heizmaterial hinunter, was sie nur können.

Das geschieht in der Regel arbeitsteilig: Die Männer stürmen die Züge, die Frauen klauben in Windeseile in Säcken zusammen, was sie greifen können. Später wird das Plündern lebensgefährlich - seit die Kohlenzüge von bewaffneten Posten begleitet werden.

Das Leben mit den amerikanischen Besatzern bleibt spannend. Viele Bonner, deren Häuser beschlagnahmt werden, klagen über Vandalismus und Diebstahl. Bei einer der vielen amerikanischen Siegesfeiern geht im April der gesamte Bootspark des Bonner Rudervereins in Flammen auf.

Gemildert wird die Not, weil mehrere von der Wehrmacht aufgegebene Lebensmittellager eine zivile Verwendung finden. Lange Schlangen bilden sich allmorgendlich ab fünf Uhr beispielsweise an der Bäckerei von Anton und Grete Stendebach an der Bad Godesberger Friedrichstraße, der späteren Friedrichallee.

"Es kam vor, dass ich als Knirps verkünden musste: Das Brot ist all. Vielleicht morgen wieder", erinnert sich Bäckersohn Klaus Stendebach 70 Jahre später und ergänzt: "Je nach Verfügbarkeit von Mehl oder auch Briketts wurde rund um die Uhr im Schichtbetrieb gebacken.

Gelegentlich gab es 'Ami-Mehl', ein ganz feines, vollständig ausgemahlenes Mehl in entsprechend bedruckten Säcken." Bestaunt werden kann ein solcher Mehlsack aus der Bäckerei Stendebach 70 Jahre später in der Dauerausstellung des Bonner Hauses der Geschichte.

Die Pension Nicodet gegenüber der Bäckerei wird zum Kasino für französische Offiziere. "Als ich einmal Brot hinbrachte", erinnert sich Klaus Stendebach, "schenkte mir der Koch die erste Apfelsine meines Lebens". In einem anderen Haus wohnen amerikanische Offiziere.

"Auf dem Schulweg hatten wir Kinder schnell erkannt, dass ein sehr freundlicher Offizier großzügig mit Schokolade war. Wir müssen wohl sehr aufdringlich gewesen sein, denn eines Tages kam ein Eimer Wasser statt Schokolade. Pech gehabt!", so der damals zehnjährige Stendebach.

Für die Kinder spielt sich das Leben tagsüber im Freien ab. An Gleichaltrigen ist zumindest im vom Luftkrieg weitgehend verschont gebliebenen Bad Godesberg kein Mangel, weil dort viele Kinder aus ausgebombten Städten untergekommen sind.

Klaus Stendebach: "Die Straße war unser bevorzugter Spielplatz, das kostbarste Gut ein abgewetzter Tennisball. Dieser lief uns eines Tages in die Schienen der Straßenbahn - und die fuhr den Tennisball platt. Tagelang haben wir dem Ball nachgetrauert."

Die schier unendliche Freizeit endet für die Bonner Kinder erst am 23. Juli, als zumindest schon einmal die Volksschulen den Betrieb wieder aufnehmen.

Gefährlich ist es im Kottenforst: Hier sorgen freigelassene russische und polnische Kriegsgefangene mit zahlreichen Überfällen auf die Zivilbevölkerung und den Annaberger Hof für Angst und Schrecken. Schließlich durchkämmen englische Besatzungstruppen den Wald und stoßen teilweise auf erheblichen Widerstand.

Die Engländer lösen am 28. Mai in Bonn die amerikanischen Truppen ab und machen die Stadt sogar für kurze Zeit zur Hauptstadt des von ihnen geschaffenen Militärdistrikts Rheinprovinz. Die Briten werden als zivilisierter wahrgenommen als ihre Vorgänger, gelten jedoch zugleich als nicht so freigiebig.

Residiert wird im Gebäude der Landwirtschaftskammer an der Endenicher Allee, bis die Hauptstadtfunktion Ende Juni nach Düsseldorf weiterwandert. Schrittweise kommt die kommunale Selbstverwaltung zurück in deutsche Hände.

Einem Fünferrat, der zunächst nur die Anweisungen der amerikanischen Besatzungsmacht auszuführen hat, wird am 24. Mai ein zwölfköpfiger Bürgerrat zur Seite gestellt. Am 13. August ernennt die britische Besatzungsmacht Eduard Spoelgen zum Oberbürgermeister. Am 6. Dezember wird eine 40-köpfige Stadtvertretung ernannt, in der Vertreter der neu gebildeten Parteien sitzen.

Anders als in der schon in Rolandseck beginnenden französischen Zone ist der Modus Vivendi mit der britischen Besatzungsmacht erträglich. Wobei sich Stadtkommandant Pirie mit seiner herablassenden und wenig mitfühlenden Art bei den Bonnern nicht sonderlich beliebt macht.

Sie sollten doch, so muss er im ersten bitterkalten Nachkriegswinter auf die Bitte nach mehr Kohlen geäußert haben, ihre Alleen und Obstbäume verheizen, wenn sie es warm haben wollten.

Akribisch wachen die Franzosen darüber, dass keine Produkte aus ihrer Zone ausgeführt werden. Schon gar nicht Wein und Spirituosen - was im nahen Bonn die abenteuerlichsten Schmuggelfahrten zur Folge hat.

Mancher behilft sich mit Schwarzbrennen, als Grundstoff nimmt man Zuckerrüben, angereichert mit Alkohol aus der Anatomie, der statt zur Leichenkonservierung nun auf dem Schwarzmarkt Abnehmer findet. Als vom "Knolly-Brandy" mehrere Menschen erblinden, kühlt die Begeisterung rasch ab.

Die Entnazifizierung beginnt. Wer als überzeugter Nationalsozialist bekannt ist, wird sonntags zum Räumen von Trümmern verpflichtet. Aber längst nicht alle ehemaligen Nationalsozialisten werden aus dem Verwaltungsdienst entfernt. Bis Anfang November 1945 liegen der Militärregierung bereits 10 000 Fragebögen überprüfter NS-Parteigenossen vor.

Zerstört hat der Krieg auch den Universitätsbetrieb. Als Glück erweist sich immerhin, dass ein Großteil der Bibliotheksbestände rechtzeitig an an andere Orte ausgelagert worden waren. 160.000 in Bonn verbliebene Bände des Magazins, etwa ein Viertel des Gesamtbestandes, sind jedoch vernichtet.

Ungleich schwerer wiegen die menschlichen Verluste - gefallene Studenten und Lehrkräfte, Professoren, die von den Nazis ihrer Positionen enthoben worden waren. Im Frühsommer '45 richtet sich die Uni-Verwaltung notdürftig in der halbwegs unversehrt gebliebenen Landwirtschaftlichen Fakultät in Poppelsdorf ein. Zum Wintersemester 1945/46 sind an der Uni Bonn wieder 2534 Studenten eingeschrieben.

Das besondere Verhältnis der Bonner zu ihrer Kultur vermag auch ein Krieg nicht klein zu kriegen: Am 13. Juli 1945 gibt es im Akademischen Kunstmuseum die erste öffentliche Kulturveranstaltung. Sie entspricht der allgemeinen Suche nach Erkenntnis: Gegeben werden, musikalisch unterlegt, Szenen aus Goethes Faust.

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