70 Jahre Kriegsende Das Geschenk des Neuanfangs

BONN · Jemand hat eine Blume in den Schriftzug gesteckt. Eine Rose für die Opfer und eine Umwidmung dieses Spruchs, der das Ausmaß der Menschenverachtung der Nazis spiegelt, die "Jedem das Seine" am Haupttor zum Konzentrationslager Buchenwand angebracht hatten.

 JEDEM DAS SEINE: Nichts dokumentiert die Menschenverachtung des vor 70 Jahren besiegten nationalsozialistischen Regimes deutlicher als die drei Worte im Eingangstor zum KZ Buchenwald bei Weimar. Allein in diesem Konzentrationslager kamen bis zur Befreiung am 11. April 1945 rund 56 000 Menschen ums Leben.

JEDEM DAS SEINE: Nichts dokumentiert die Menschenverachtung des vor 70 Jahren besiegten nationalsozialistischen Regimes deutlicher als die drei Worte im Eingangstor zum KZ Buchenwald bei Weimar. Allein in diesem Konzentrationslager kamen bis zur Befreiung am 11. April 1945 rund 56 000 Menschen ums Leben.

Foto: dpa

Ein Spruch, der die Menschheit teilte in eine Herrenrasse, ein Volk, das einen zusätzlichen Lebensraum im Osten zu beanspruchen sich herausnahm, und auf der anderen Seite die Untermenschen; Völker, denen dieser Lebensraum abgepresst wurde, Millionen von Juden, die entrechtet, vertrieben, gedemütigt, drangsaliert und ermordet wurden, Sinti, Roma, Homosexuelle, politisch Missliebige, behinderte Menschen, die dieses Schicksal teilen mussten.

Das KZ Buchenwald bei Weimar wurde am 11. April 1945 befreit, das KZ Auschwitz Monate zuvor, am 27. Januar 1945. Doch das Grauen der Nazi-Diktatur war für viele erst nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 vorbei.

Die Bilder, die wir heute bei der Erinnerung an den 8. Mai vor 70 Jahren sehen, zeigen zerbombte deutsche Städte und zerschossene Leiber, Kolonnen grauer, demoralisierter Soldaten auf dem Weg in die Gefangenschaft, sie zeigen Frauen und Kinder in Trümmern auf der Suche nach einem Alltag ohne Angst, den leeren Blick der Verwundeten.

"Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern", sagte der am 31. Januar dieses Jahres gestorbene Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Und schickte in seiner Rede Passagen später ein "Aber" hinterher: "Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte."

Man dürfe den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen, jenem Tag, als Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum deutschen Reichskanzler ernannt wurde.

"Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns", formulierte 1949 der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, „weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind."

Während die DDR-Volkskammer den 8. Mai als "Tag der Befreiung" zum Feiertag bestimmte, tat sich die Bundesrepublik lange Zeit schwer mit dem Datum. Erst 1970 hielt Bundespräsident Gustav Heinemann die erste Rede zu diesem Tag, im Bundestag fand eine Sondersitzung statt, bei der Bundeskanzler Willy Brandt und die Vertreter der Fraktionen sprachen.

Das Wort "Befreiung" nimmt als erster Bundespräsident Walter Scheel 1975 in den Mund: "Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei. Und wir atmeten auf, als dann das Ende kam." Und weiter: "Aber am 8. Mai fiel nicht nur die Hitler-Diktatur, es fiel auch das Deutsche Reich. Das Deutsche Reich war kein Werk Hitlers, es war der Staat der Deutschen.“

Dann folgte 1985 die brillante Weizsäcker-Rede, die meisterlich Trauer, historischen Rückblick und Zukunftsperspektive, Emotionen und klare Worte bündelt. Der 8. Mai als Tag der bitteren Niederlage, aber eben auch als Tag für "einen geschenkten neuen Anfang", als Tag der Befreiung: Weizsäckers Sicht gilt auch in der internationalen Bewertung der Rede als Meilenstein in der Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Geschichte.

ZitatDie Deutschen haben lange gebraucht, bis sie den 8. Mai nicht nur als Tag der Kapitulation und Zerstörung aller Illusionen empfanden, sondern auch als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und als Chance zum demokratischen Neuanfang. Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985 im Plenarsaal des Bundestages in Bonn markiert die Wende, macht aber auch deutlich: "Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern."Am 8. Mai 1985 hat er sie im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn gehalten; noch immer lohnt es sich, sie nachzulesen. Vielleicht auch, weil sie einer hielt, der selbst Soldat gewesen war, zusammen mit seinem Bruder zu den Truppen gehörte, die Polen am 1. September 1939 angriffen.

Nur einen Tag später fiel Richard Weizsäckers Bruder Heinrich. Bis 1945 erlebte Richard von Weizsäcker diesen Krieg, überlebte ihn, spürte später als Regierender Bürgermeister in Berlin hautnah die Konsequenzen des 8. Mai, die deutsch-deutsche Teilung. Als er die Bonner Rede hielt, herrschte noch Kalter Krieg zwischen dem Westen und den Staaten des Warschauer Paktes. Auch das war ein Erbe des 8. Mai.

"Die anderen Völker wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir selbst zu Opfern wurden", sagte von Weizsäcker und zählte die Konsequenzen auf: Teilung Deutschlands, Spaltung Europas, der schmerzliche Weg zum Frieden. "Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewusst zu machen, welche Überwindung die Bereitschaft zur Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte", sagte er.

"Können wir uns wirklich in die Lage von Angehörigen der Opfer des Warschauer Ghettos oder des Massakers von Lidice versetzen?" Es ist von Weizsäckers immer wieder vollzogener Perspektivwechsel im Moment der Erinnerung, der diese Bonner Rede so wertvoll macht.

Zu diesem Perspektivwechsel gehört auch der Blick nach vorne, der Neuanfang für die Deutschen, für ganz Europa. Vier Jahre nach Kriegsende, am 8. Mai 1949, beschloss der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz.

"Über Parteigrenzen hinweg gaben seine Demokraten die Antwort auf Krieg und Gewaltherrschaft im Artikel 1 unserer Verfassung", sagte von Weizsäcker und zitierte: "Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt."

Das Bekenntnis der deutschen Verfassungsväter zu Frieden und Freiheit auf der Basis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen: Beides ist eine Folge des 8. Mai 1945.

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