Wetterextreme und Klimawandel Energiegeladene Wasserdampfmaschinen über Deutschland

Bonn · Die erwärmte Atmosphäre tankt über den Meeren mehr Feuchtigkeit und regnet sie über Land ab. Doch dieser simple Effekt ist nur ein Faktor im chaotischen Klimasystem, das gerade heftige Wetter produziert.

Der Hagel türmt sich im fränkischen Neunkirchen einen halben Meter hoch. Spontan spannen Bauern an einem Tag Ende Juli 2014 Schneepflüge vor ihre Traktoren und schieben die lockere Eisschicht von den Straßen. Einige hundert Kilometer weiter nördlich prasselt es im westfälischen Münster so heftig aus Gewitterwolken, dass das Regenevent nicht mehr als "Jahrhundert-Ereignis" bezeichnet werden könne, so das nordrhein-westfälische Landesumweltamt in Recklinghausen. Im langjährigen Mittel fallen in Münster 67 Millimeter pro Quadratmeter, was 67 Litern entspricht. Am 28. Juli 2014 sind es 292 Liter - und das in sieben Stunden.

Anfang vergangener Woche zog das Tropenwetter mit Gewittern, nach denen man fast die Uhr stellen konnte, gemächlich und viel langsamer als eine klassische Front von Westen nach Osten. Und Claudia Kleinert, TV-Wettermoderatorin, meinte: "Eben typisches Sommerwetter in Mitteleuropa." Gestern dann Land unter im Süden Großbritanniens: Der Ex-Hurrikan "Bertha", inzwischen zum Sturm geschrumpft, lud seine Fluten rund um Cornwall ab. Abends verschonte eine heftige Gewitterfront das Rheinland, erwischte ab Hessen und Rheinland-Pfalz.

Weiter östlich wütete der Monsun in ungewöhnlicher Stärke, durchweichte im Himalaya einen halben Berg, der dann auf nepalesische Dörfer stürzte, einen Fluss staute und so einen See schuf, der eine Flutwelle aus dem Hochgebirge bis nach Indien auslösen könnte. Rund um die Erde erlebt der Mensch gehäuft "Wetteranomalien", wie Abweichungen vom Durchschnittswetter für einen Ort zu einer bestimmten Jahreszeit im Fachjargon heißen.

Zwar ist das Wetter - "Wie wird's morgen?" - immer Thema, aber zuletzt ging es nicht nur im Rheinland tiefgründiger zu. Der Austausch subjektiver Beobachtungen: Etwa darüber, dass es hier wie aus Kübeln schüttete und dort, nur einige Straßen weiter, staubtrocken blieb. Es schien, als würden Peanuts entscheiden, ob eine Wolke ihr Wasser halten kann - oder nicht und dann Kanaldeckel tanzen lässt. Dazu vor Wochen der tagelange Dauerregen, weil das Tief nur im Schneckentempo seine Lage veränderte. Sind diese Regenmengen nur Wetteranomalien? Oder dirigiert dahinter eine unsichtbare Kraft? Die globale Erwärmung? Der Klimawandel?

Als nach dem "Jahrhundert-Hochwasser" in Deutschland im Juni 2013 elf Monate später - nach einem Sechs-Tage-Regen - Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien in Fluten versinken, meldet der Deutsche Wetterdienst (DWD): "Zweites Jahrhundert-Hochwasser in Europa innerhalb von zwölf Monaten." Es gelte für solche Katastrophen grundsätzlich, dass "die Verknüpfung von Einzelereignissen mit dem Klimawandel nicht möglich" sei. Dennoch stelle sich die Frage, so der DWD, "ob die jüngste Häufung von außergewöhnlichen mehrtägigen Starkregenfällen in Europa (...) eine Realisierung der von vielen Klimamodellen vorhergesagten erhöhten Häufigkeit solcher Ereignisse darstellt." Kurzum: Das Wetter gebärdet sich so, wie die von Höchstleistungsrechnern simulierten Klimamodelle es prognostiziert hatten.

Die meteorologische Faustregel lautet, dass erst nach 30 Jahren Wetterstatistik eine Klimaänderung "bewiesen" ist. Deshalb zaudern Meteorologen heute, das Wahrscheinliche auszusprechen, und verhalten sich lieber wissenschaftlich korrekt. Die Forscher des weltweit größten Rückversicherers MunichRe sind weniger zurückhaltend, was nicht erstaunt, denn ihr Arbeitgeber zahlt immer mehr Milliarden für Wetterschäden.

Aus einer MunichRe-Studie zu den USA: In den letzten Jahren habe sich die Zahl extremer Wetterphänomene wie Dürren oder Wirbelstürme in den USA verfünffacht. Die Studie resümiert, dass es die höchsten Schäden innerhalb der letzten Jahre gab. Die Risikoforscher im Wortlaut: "Der Klimawandel lässt sich nur noch abschwächen und verlangsamen. Er wird sich in den nächsten zehn Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar beschleunigen. Unmittelbare Folgeerscheinungen sind extreme Wetterereignisse, die zunehmend Todesopfer und hohe materielle Schäden verursachen, neben Schäden an Infrastrukturen vor allem auch Ertragsverluste in der Landwirtschaft."

Schon vor 26 Jahren, als eine Hitzewelle im Mittleren Westen der USA mal wieder Ähren und Mais verdorren ließ, war dem legendären James Hansen der Kragen geplatzt. Der Nasa-Klimaforscher versuchte, der Öffentlichkeit mit dem Gleichnis vom gezinkten Würfel zu erklären, warum die zeitliche Dichte von Wetterextremen nicht mit dem Satz "Alles schon mal dagewesen" erklärt werden könne. Der Amerikaner erzählte dem lauschenden Publikum, dass die sechs Seiten eines Würfels vor der globalen Erwärmung wie folgt gefärbt waren: rot, rot, weiß, weiß, blau, blau. Rot für Hitze, weiß für Durchschnitt und blau für einen kalten Sommer. Im 21. Jahrhundert habe der Würfel nun ein anderes Farbenverhältnis: weiß, blau, rot, rot, rot, dunkelrot. Die Wahrscheinlichkeit für eine Hitzewelle sei gestiegen und der Wetterwürfel vom Klimawandel ordentlich gezinkt worden.

In der Washington Post schrieb Hansen: "Unsere Analyse zeigt, dass es nicht länger ausreicht zu sagen, die globale Erwärmung werde die Wahrscheinlichkeit von Wetterextremen erhöhen, und immer wieder einschränkend hinzuzufügen, dass kein einzelnes Wetterereignis direkt mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht werden kann. Im Gegenteil: Für das extrem heiße Wetter der jüngsten Vergangenheit gibt es praktisch keine andere Erklärung."

Zurück zum Starkregen in Deutschland: Die Physik, die das Phänomen erklärt, ist vergleichsweise simpel. Jeder kennt sie aus dem Alltag, etwa aus dem Fond seines Autos. Beschlägt im Winter früh morgens die Frontscheibe von innen mit Feuchtigkeit, bedeutet das: Die Pkw-Innenluft ist zu kalt, um die Atemluft des Fahrers aufzunehmen. Dann kondensiert die Feuchtigkeit. Kaum verströmt das Gebläse warme Luft, saugt diese die Feuchtigkeit auf - wie die Wärme der aufsteigenden Sonne zunehmend den morgendlichen Nebel auflöst.Ergo: Weil die Erde sich erwärmt, steigt die Lufttemperatur, die wiederum mehr Wasser über den Meeren verdunsten lässt, womit die Lufthülle mehr Feuchtigkeit trägt - und über Land abregnet.

Wolken ähneln Schwämmen, die je nach Temperatur mehr oder weniger (siehe "Luft und Wasserdampf") Wasser aufnehmen können. Überfordert die Regenmenge die Aufnahmekapazität eines Bodens in Hanglage, sind Erdrutsche ebenso unvermeidlich wie überflutete Straßen in versiegelten Städten.

Auf dem 8. Extremwetterkongress vergangenes Jahr in Hamburg sagte DWD-Vizechef Paul Becker: "Die Großwetterlage Tief nimmt in Mitteleuropa deutlich zu." Damit steige das Risiko von Hochwasserereignissen. Professor Peter Höppe, Meteorologe und Leiter der Georisikoforschung bei der MunichRe, berichtete: "Die Wetterlagen werden beständiger." Feucht- und Trockenphasen dauern länger. Höppe erklärt das mit dem Jetstream, eine Art Wind-Highway ohne Tempolimit in der Stratosphäre, der jetzt seltener die Richtung ändert. Diese Strahlströme steuern im Wesentlichen die Hochs und Tiefs in der wetteraktiven Schicht.

Johann Wolfgang von Goethe hat einmal geschrieben: "Die ganze Natur ist eine Melodie, in der eine tiefe Harmonie verborgen ist." Überträgt man das intuitive Bild eines Dichters auf das Erdklima, so blickt man auf eine Kugel, die sich um selbst dreht und um die Sonne. Die Strahlung unseres Sterns erwischt die Erdpole schwächer als den Äquator. Daraus ergibt sich ein starkes Energiefälle, das ständig nach Ausgleich (Goethes "Harmonie") strebt und dazu unterschiedlichste Wettermelodien produziert: Hochs und Tiefs, Schnee und Regen und vor allem Winde. Wollte man die seit rund 15 000 Jahren weitgehend bestehende Klimastabilität als menschenfreundliche Harmonie verstehen, so ist diese nun durch die von Jahr zu Jahr wachsenden Treibhausgasschwaden, die der auf fossiler Basis (Öl, Kohle) wirtschaftende Mensch freisetzt, massiv gestört.

Der Gasabfall der Zivilisation erwärmt den Planeten. Dies geschieht nicht gleichmäßig. Am stärksten schnellt die Temperatur in den Polregionen hoch, weshalb das Eis der Arktis rasant wegschmilzt. Zur Nordhalbkugel: Wenn sich der hohe Norden besonders stark erwärmt, verringert sich das Energiegefälle zu Subtropen und Tropen. Deshalb gibt es weniger Ausgleichsbewegungen und einen schwächelnden Jetstream. Er beginnt wie ein Fluss zu mäandrieren, schlägt stärkere Kurven und lässt als Steuerungszentrale für Hochs und Tiefs diese länger als gewohnt an einer Stelle verharren. So war es exakt letzten Winter: Nordamerika erhielt monatelang Kälte und Schneemassen, Europa das Gegenteil, während der weit nach Norden und Süden schlingernde Jetstream Sibirien besonders tiefe Minusgrade bescherte. Aus dem geringen Energiegefälle könnte folgen: weniger Stürme über Europa. Hurrikane entstehen dagegen in den Tropen.

Doch das spiegelt nur einen Erklärungsansatz innerhalb des chaotischen Geschehens in der Atmosphäre. Tatsächlich: Die Chaostheorie wurde von einem Meteorologen 1963 "entdeckt", doch es dauerte Jahre, bis sie sich etablierte. Die Chaostheorie erklärt nicht die Unordnung auf einem Schreibtisch, sondern wie dynamische Systeme mit vielen Variablen funktionieren. Vereinfacht: Weg von der Vorstellung, dass "ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen haben", hin zu der Realität in komplexen Systemen, wo "kleine Ursachen große Folgen haben" - können. Das Gleichgewicht in einem dynamischen System kann durch harmlose Turbulenzen und Aufschaukelungsphänomene völlig aus den Fugen geraten und im Chaos enden. Doch das System beherrscht die Reorganisation und landet in einem neuen Gleichgewicht oder eben in "Goethes Harmonie". Aus Ordnung wird Chaos, aus Chaos wieder Ordnung. Inzwischen hat der Mensch erkannt: Die neuronalen Netze, die Entstehung eines Verkehrsstaus, Börsengeschehen, politische Systeme, die Rhythmik des Herzens: alles chaotische Systeme.

"Wir sind weit davon entfernt, alle Zusammenhänge zu verstehen", sagt Guido Halbig, Chef-Meteorologe der DWD-Niederlassung in Essen. Weltweit suche man nach Strömungsmustern, die sich gerade verändern, etwa "das Verhältnis zwischen Islandtief und Azorenhoch", das die Wettermelodien für Europa komponiert. Zu kleinräumigen, quasi aus dem Nichts entstehenden Gewitterzellen und dem Rekordregen in Münster sagt er, dass einzelne Geräte stadtweit 20, 110 oder 292 Liter pro Quadratmeter gemessen hätten. Als erstes habe man die Regenmesser kontrolliert. "Jedenfalls hat der, der 292 Liter gemessen hat, keinen technischen Defekt."

Die Temperaturerhöhung ist das eine, wie die Atmosphäre reagiert, das andere. Dazu kommt der überragende Klima- und Wetterfaktor Ozean; 75 Prozent der Erde sind mit Meeren bedeckt. Zuletzt dachte der Mensch, die Erderwärmung pausiert, tatsächlich hatte der Weltozean große Mengen der zusätzlichen Wärme geschluckt. Und Lufthülle und Ozeanflächen beeinflussen sich gegenseitig. Nur weiß die Forschung über die Rückseite des Mondes mehr als über das Strömungsgeschehen in der Tiefsee.

Einstweilen meldeten die globalen Messfühler für Juni 2014 wieder einen neuen Rekord: Kein Juni seit 1880 sei wärmer gewesen, so das US-Klimadatenzentrum. Analysen der Japan Meteorological Agency bestätigten die Amerikaner. Der Juni lag mit 16,22 Grad Celsius um 0,72 Grad über dem Mittel des 20. Jahrhunderts (15,5 Grad). Auch wenn es aus der Perspektive von Bonn-Endenich oder Eitorf gefühltermaßen kälter war: Gemeint ist mit diesen Zahlen der Mittelwert der ganzen Erde - das heißt im "Welt-Juni" sowohl der Sommer auf der Nordhalbkugel als auch der gegenwärtige Winter zwischen Sydney und Kapstadt.

Luft und Wasserdampf

Warme Luft kann mehr Feuchtigkeit aufnehmen als kalte. Bei null Grad Celsius kann ein Kubikmeter Luft maximal fünf Gramm Wasserdampf aufnehmen, bei 20 Grad 17 Gramm, bei 30 Grad 30 Gramm. Beispiel: Eine mittelgroße Gewitterwolke misst 2000 (Länge) mal 2000 Meter (Breite) und hat eine vertikale Mächtigkeit von 8000 Metern. Das sind 32 Milliarden Kubikmeter. Angenommen die Wolke trägt ein Gramm Wasserdampf pro Kubikmeter, so wiegt das Wasser in der Wolke 32.000 Tonnen - so schwer wie rund 6000 Afrikanische Elefanten. Oder so viel Wasser, wie in rund zehn Sekunden bei Köln durch den Rhein fließt.

Trends in Deutschland

Nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes gibt es in Deutschland seit einigen Jahrzehnten folgende - auf Messungen basierende - meteorologische Trends:

  • Seit 1881 ist es im Mittel um 1,2 Grad Celsius wärmer geworden.
  • Seit 1951 ist die Anzahl der heißen Tage (über 30 Grad Celsius) von etwa drei auf rund acht im Mittel pro Jahr gestiegen.
  • Seit 1951 hat sich die Anzahl der Tage pro Jahr mit Starkniederschlag mit mehr als 30 Millimetern Niederschlag geringfügig erhöht.
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