Tiger-Drama im Kölner Zoo Ein verhängnisvoller Fehler

KÖLN · Es ist diese eine Frage, die Zoo-Vorstand Christoph Landsberg nicht aus dem Kopf will. Warum öffnet Tierpflegerin Ruth K. (43) am Samstagmittag den Tigerkäfig, obwohl eines der Raubtiere auf seiner Schlafpritsche liegt? "Man sieht die Schlafstelle sofort, wenn man in den Käfig schaut", sagt Landsberg fassungslos. Offenbar beabsichtigt die Pflegerin, den Käfig zu reinigen.

Der "Supergau", so nennt es Landsberg, ereignet sich wenige Minuten nach 12 Uhr. Nachdem Ruth K. den Käfig betreten hat, springt Tiger Altai die Pflegerin nach ersten Erkenntnissen von hinten an und beißt sie in den Hals. Die Frau ist offenbar sofort tot. Eine andere Pflegerin, die Ruth K. ins Gebäude begleitet hatte - so wie es im Umgang mit Raubtieren Vorschrift ist -, ruft kurz darauf ihre Kollegin. Weil sie keine Antwort erhält, betritt sie den Wirtschaftsraum und findet die Frau leblos im Käfig.

Das Unglück am Samstag ist der schwerste Zwischenfall in der mehr als 150-jährigen Geschichte des Kölner Zoos. Erstmals wird ein Mensch durch eines der Zootiere getötet. "Dies ist der schwärzeste Tag in meiner Karriere", sagt Zoodirektor Theo Pagel am frühen Nachmittag geschockt. Die Verantwortlichen entscheiden sofort, die für den Abend terminierte "Sommernacht im Zoo" abzusagen. "Mit Rücksicht auf die Angehörigen und Beschäftigten", wie es heißt.

Als die Pflegerin um kurz nach Zwölf Ruth K. entdeckt, schwebt sie selbst in Lebensgefahr. Denn die Tür, die vom Wirtschaftsraum mit Küche zu den Tigerkäfigen führt, steht offen. Auch ein Fenster ist geöffnet, durch dieses könnte der Tiger jedoch nur in ein speziell gesichertes Treppenhaus gelangen. Sofort löst sie per SMS Alarm aus und verlässt das Haus. Unter dem Stichwort "Tier frei" werden alle Mitarbeiter alarmiert. Um 12.07 Uhr geht ein Notruf bei der Polizei ein.

Zu diesem Zeitpunkt schlendern Tausende Besucher durch den Zoo. Unverzüglich leiten die Verantwortlichen des Zoos die Räumung des Geländes ein. Die Besucher werden nach Polizeiangaben per Durchsage gebeten, sich zu den Ausgängen zu begeben. Zeitgleich radeln zahlreiche Pfleger über das Gelände und warnen die Menschen. Für alle Fälle alarmiert die Polizei ein Spezialeinsatzkommando (SEK), das den Tiger zur Strecke bringen soll, falls ihm die Flucht gelingt. "Es war zunächst nicht zweifelsfrei klar, ob das Tier sein Gehege verlassen konnte oder nicht", sagt Polizeisprecher Carsten Möllers.

Zoodirektor Pagel macht gerade einen Spaziergang mit seinem Hund, als sein Mobiltelefon piept. Er wohnt direkt neben dem Zoo und hat es nicht weit zum Tigergehege. Aus einem gesicherten Schrank holt er ein großkalibriges Gewehr, zu dem stets ein Diensthabender Zugang hat. Mit Hilfe der inzwischen eingetroffenen Polizisten gelangt Pagel auf das Dach des Tiger-Gebäudes. Er richtet den Lauf des Gewehrs durch eine Dachluke, zielt und bringt den Tiger mit einem Schuss zur Strecke. "Wir konnten den Tiger nicht betäuben, weil es um Menschenleben ging. Es hätte zu lange gedauert, bis die Betäubung gewirkt hätte", erklärt Landsberg. Viermal im Jahr muss das Zoo-Personal ein Schießtraining absolvieren.

[kein Linktext vorhanden]Erst als Altai reglos im Käfig liegt, können Notarzt und Sanitäter zu Ruth K. eilen. Doch sie können nur noch den Tod der Tierpflegerin feststellen. Nachdem die Gefahr gebannt ist, wird die Räumung des Zoos abgebrochen. Auch das Spezialeinsatzkommando kann seinen Einsatz auf der Anfahrt zum Zoo abbrechen. Viele Besucher wissen nichts von der Tragödie. "Als wir vor dem Gehege standen, sind die Tiger plötzlich alle zum Eingang ihrer Käfige gelaufen.

Die Tore waren aber zu. Ich dachte, es wäre Fütterung", sagt ein junger Vater, der sein Kind im Buggy schiebt. Kurz darauf seien Rettungswagen durch den Zoo gefahren. Die Nachricht des tödlichen Unglücks erreicht schon nach wenigen Minuten die Medien. Reporter eilen in den Zoo, Nachrichtensender informieren ihre Zuschauer über sogenannte "Breaking News" per Laufschrift über den Zwischenfall. Um 14.12 Uhr tritt der Zoodirektor in Gummistiefeln und hellbrauner Weste sichtlich mitgenommen vor die Kameras. Die Ursache des Unglücks erklärt er sich mit einem "Bedienfehler" der Sicherheitsschleuse.

"Die Frau hätte sich nicht zusammen mit der Raubkatze in dem Tiergehege aufhalten dürfen", sagt Pagel. Sie sei an einer Stelle gewesen, wo sie nicht hätte sein dürfen. Nach knapp zwei Minuten verschwindet Pagel wieder in seinem Büro. Nachdem der Tiger getötet worden ist, sichern Ermittler der Polizei Spuren in dem Tiger-Haus. "Wir haben ein Todesermittlungsverfahren eingeleitet und prüfen nun den genauen Hergang des Unglücks", sagt Polizeisprecher Möllers. Das besondere Interesse der Beamten gilt der Sicherheitsschleuse, die Ruth K. leichtsinnigerweise geöffnet hatte.

Trotz ihrer langjährigen Erfahrung als Tierpflegerin war Ruth K. im Jahr 2002 schon einmal ein ähnlicher Fehler wie jetzt bei den Tigern unterlaufen. Ohne einen Leopard vorher einzusperren, betritt sie dessen Gehege. Nur mit viel Glück entgeht sie einem Angriff des Tiers, weil ein Auszubildender zufällig mit einem Schlauch in der Nähe steht und die Raubkatze mit gezielt versprühten Wasserfontänen vertreibt. Die Pflegerin übersteht den Zwischenfall verletzt.

Das Tigergehege gehört seit Ende 2011 zu den meist besuchten Anlagen im Zoo. Im November kam der Nachwuchs der beiden Tiger Altai und Hanya zur Welt. Aus den tapsigen Jungtigern Jegor, Mila und Finja sind inzwischen längst große Raubkatzen geworden. Ein viertes Tigerbaby tötete Mutter Hanya kurz nach der Geburt.

Am Tag nach dem Drama deutet kaum etwas auf den Zwischenfall hin. Familien mit Kindern schauen sich Zebras, Erdmännchen und Tiger an. Nur vor dem Haupteingang haben Besucher eine Blume und einige Zettel auf den Boden gelegt. "Es tut uns leid, was passiert ist", lautet eine der mitfühlenden Botschaften.

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