Gefährliche Störfälle AKW Tihange offenbar anfälliger als gedacht

Bonn/Aachen · Medienberichte sorgen für Aufruhr: Das nah an Aachen liegende belgische Atomkraftwerk Tihange ist offenbar wesentlich anfälliger als bislang bekannt. Ein Reaktorunfall dort hätte für die Grenzregion gravierende Folgen.

Gerade einmal 65 Kilometer trennen das belgische Atomkraftwerk Tihange und die Stadt Aachen – ein Katzensprung, sollte es tatsächlich zum befürchteten Reaktorunfall kommen. Die freigesetzte Radioaktivität würde für die dort lebenden Menschen eine unmittelbare Strahlenbelastung bedeuten. Und nicht nur das. Auch eine Kontaminierung von Boden, Wasser und Nahrungsmitteln wäre die Folge – kein Wunder also, dass in Aachen jede Meldung über Störfälle am umstrittenen Atommeiler Tihange mit wachsamen Augen verfolgt wird.

An diesem Donnerstag war es wieder soweit. Der WDR-Hörfunk und das ARD-Magazin „Monitor“ berichteten von einem Schreiben der belgischen Atomaufsicht Fanc, das eine Häufung sogenannter Precursor-Fälle (deutsch: Vorbote) im Atomreaktor Tihange-1 belegen soll. Bei einem Precursor-Vorfall handelt es sich um ein Ereignis in einem Atomkraftwerk, das unter Umständen zu schweren Schäden am Reaktorkern bis hin zur Kernschmelze führen kann.

Bisher galten wegen Haarrissen in den Reaktordruckbehältern vor allem die Atomreaktoren Tihange-2 und Doel-3 als Sicherheitsrisiko. Dem WDR-Bericht zufolge gab es in den Jahren 2013 bis 2015 insgesamt 14 Precursor-Fälle, mehr als die Hälfte davon allerdings im Reaktor Tihange-1.

Die aktuelle Meldung ist Wasser auf die Mühlen der Atomkraftkritiker. Sie sehen sich in ihrer Haltung bestätigt. Der Aachener Städteregionschef Helmut Etschenberg dankte sogleich dem Fernsehteam, dem es gelungen sei, weitergehende Sicherheitslücken in Tihange aufzudecken. Die Bedrohungslage sei zunächst nicht einzuschätzen. Aber die statistische Häufung sei bedenklich, sagte er.

BUMB bekommt Daten von belgischer Seite

Noch am selben Tag gab es daran erste Zweifel. Sicherheitsexperten des Bundesumweltministeriums (BUMB) aus Berlin und Bonn wiesen darauf hin, dass durch die Berichterstattung der Eindruck entstanden sei, dass allein die Anzahl der Precursor-Vorfälle auf die Sicherheit eines Atomkraftwerks schließen lasse. Dem sei aber nicht so.

Bei einem Precursor-Ereignis werde lediglich simuliert, ob es in der Folge der Störung zu einer Kernschmelze kommen könnte. Die Chance müsse bei eins zu einer Million liegen, damit das Ereignis als Precursor bezeichnet werde. Dabei würden zudem alle Anstrengungen, das Problem zu beheben nicht mit eingerechnet.

Für die BUMB-Experten sind die Informationen des WDR-Berichts im Übrigen nicht neu. Diese Daten seien ihnen bereits von belgischer Seite zugespielt worden. Zwar gebe es keine Auskunftspflicht und das BUMB habe auch keinen Zugriff auf die Daten zu den belgischen Atomkraftwerken in Grenznähe, doch es bestehe enger Kontakt mit den dortigen Behörden.

Vergleichbare Anlagen geschlossen

Andere sehen den aktuellen Statusbericht aus Belgien weniger gelassen. Der Gutachter und frühere Mitarbeiter der Kölner Gesellschaft für Reaktorsicherheit, Professor Manfred Mertins, ist sich sicher, dass die bestehenden Sicherheitskonzepte für den alten Atommeiler Tihange heute nie und nimmer genehmigt würden. Vergleichbar alte Anlagen in Deutschland seien aus Sicherheitsgründen zurecht längst abgeschaltet worden. Für den 71-Jährigen ist die große Anzahl an Schadensereignissen in Tihange ein Zeichen dafür, dass die Anlage immer maroder wird: „Die dortige Sicherheitskultur reicht offenbar nicht aus.“

Man könne Tschernobyl und Tihange nach technischen Gesichtspunkten zwar nicht vergleichen. Was sich jedoch in dem ukrainischen Meiler vor dem Gau an Precursor-Fällen ereignet habe, erinnere an die jetzt bekannt gewordenen Störfälle in Tihange.

Dem pflichteten die BUMB-Experten zwar nicht bei, doch auch sie machten unmissverständlich klar, dass sie es begrüßen würden, wenn Tihange-1 möglichst bald abgeschaltet wird. Der Atommeiler sei nun schon seit 1975 in Betrieb, und das Ziel könne nur lauten, ihn so schnell wie möglich vom Netz zu nehmen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
„Die Bedrohungslage ist hoch“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Gespräch „Die Bedrohungslage ist hoch“
Aus dem Ressort