Kommentar zu CSU und Grünen Neuvermessung

Meinung · In der globalisierten Welt, in der neue Netzwerke rasch aufgebaut (und wieder gelöst) werden, sollte es nicht verwundern, wenn CSU und Grünen es schaffen, sich von ehemals konträren Standpunkten aufeinander zuzubewegen, kommentiert Holger Möhle.

 Die Reichstagskuppel in Berlin.

Die Reichstagskuppel in Berlin.

Foto: dpa

Vielleicht erleben wir in den nächsten Wochen ja die Geschichte einer Neuvermessung politischen Terrains. CSU und Grüne entdecken Jamaika, Terra incognita, politisch unerforschtes Land. Plötzlich interessieren sie sich für die Biografie des jeweils anderen. Die Vergangenheit ist (fürs Erste) ausgeblendet, weil die Gegenwart, aber vor allem die Zukunft der nächsten vier Jahre ihnen anderes diktiert.

Früher waren CSU und Grüne politische Gegner, ja Feinde, die sich erbittert bekämpft und mit tiefer Verachtung bestraft haben. Heute sagt CSU-Chef Horst Seehofer, er wolle wissen, woher beispielsweise Grünen-Chef Cem Özdemir komme, denn man stamme schließlich aus anderen Kulturen.

Die CSU und die Grünen sind die Antipoden dieser Sondierungsgespräche über eine Jamaika-Koalition im Bund. Das kann man fast wörtlich übersetzen. Gefühlt lebten CSU und Grüne tatsächlich auf gegenüberliegenden Punkten der Erde. Eine Weltreise voneinander entfernt. Hier die Agrar-Lobby, dort die Biobauern. Hier die Traditionsbewahrer, die sich gegen alles Fremde abschotten, dort die Multikultis, die alle ins Land lassen wollen.

Hier die Hardliner in der Innenpolitik, die Videoüberwachung, automatische Gesichtsfelderkennung und Vorratsdatenspeicherung gut finden, dort die Verteidiger von Bürger- und Freiheitsrechten, die dem großen Bruder Staat nicht zu viel Zugriff auf die Persönlichkeitsrechte seiner Bürger gestatten wollen. Auf der anderen Seite: Bei Europa könnten sich CSU und Grüne einigen, außerdem zumindest bei der Hälfte des alten CSU-Mottos: Laptop ja, wenn damit die Notwendigkeit der Digitalisierung gemeint ist – Lederhose allerdings nein.

In der globalisierten Welt, in der neue Netzwerke rasch aufgebaut (und wieder gelöst) werden, sollte es nicht verwundern, wenn CSU und Grünen es schaffen, sich von ehemals konträren Standpunkten aufeinander zuzubewegen. Ein Kraftakt wäre das schon, aber nicht unmöglich. Die Welt ändert sich, die Wähler schaffen neue, anstrengende Mehrheiten. Die Politik muss darauf auch neue Antworten finden.

Man kann am Beispiel von CSU und Grünen das Experiment einer Jamaika-Koalition und ihre mögliche Wirkung in das Land hinein gut erklären. Vielleicht verkrachen sie sich auch binnen kürzester Zeit. Vielleicht aber wäre eine arbeitsfähige Grundlage zwischen CSU und Grünen gerade Beleg für die Reformkraft auch des Landes.

Das Signal dahinter: Kulturell sehr unterschiedliche Parteien würden es vollbringen, das Trennende im Sinne der gesamten Gesellschaft zu überwinden. Man muss es ja nicht gleich Projekt nennen. Dass CSU und Grüne auf ihrer Reise nach Jamaika Identität und Markenkern verlieren, ist ihre größte Furcht.

Doch keine Angst: CSU und Grüne werden sich niemals so grün, dass sie nicht mehr unterscheidbar wären. Es wäre auch zu schade um die schöne Streitkultur.

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