Interview mit Schriftsteller Navid Kermani „Da wird man Systemverteidiger“

Köln · Navid Kermani über den Begriff „Bürger“ und die Rolle des Schriftstellers. Der Kölner Autor erhält an diesem Mittwoch den Bürgerpreis der deutschen Zeitungen.

 „Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind für mich nichts Selbstverständliches“: Der deutsch-iranische Autor Navid Kermani.

„Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind für mich nichts Selbstverständliches“: Der deutsch-iranische Autor Navid Kermani.

Foto: Grönert

Herr Kermani, zu Ihrer nicht gerade kleinen Sammlung an Ehrungen und Auszeichnungen kommt jetzt der Bürgerpreis der deutschen Tageszeitungen. Was bedeutet er Ihnen?

Navid Kermani: Als Leser und Autor sehr viel: Ich war immer passionierter Zeitungsleser und bin es bis heute. Zugleich habe ich mit 15 angefangen, für Zeitungen zu schreiben, damals für die Siegener Lokalredaktion der Westfälischen Rundschau, habe als Gymnasiast im Sommer Urlaubsvertretungen gemacht und sehr früh das Handwerk bis hin zum Blattmachen gelernt. Diese Arbeit setzt sich bis heute in den Reportagen fort, die zuerst in der Zeitung oder einer Zeitschrift stehen und dann erst als Buch erscheinen. Deshalb bewegt es mich sehr, dass meine Arbeit von denen, für die ich arbeite, auch im übertragenen Sinne wahrgenommen und ausgezeichnet wird.

Was löst der Begriff „Bürger“ in Ihnen aus?

Kermani: Vielleicht gehört die Einbildung einer antibürgerlichen Existenz ja zum Selbstentwurf des Schriftstellers – jedenfalls, wenn sein Alltag spätestens mit der Geburt der Kinder noch nicht ganz straff strukturiert ist und er im Grunde so gleichförmig lebt, wie er es bei den Eltern gesehen, aber für sich immer ausgeschlossen hatte. Bei mir hatte ein gewisser Vorbehalt gegen den Begriff sicher auch damit zu tun, dass „Bürgertum“ zur Zeit meiner Jugend in den 80er Jahren gleichbedeutend war mit „Spießigkeit“. Bürger – das waren für uns immer nur die anderen, die Älteren, die auch politisch auf der anderen Seite standen. Dabei waren wir allesamt bürgerlich sozialisiert, und so war auch der anti-bürgerliche Impuls durch und durch bürgerlich.

Wie bei den Grünen?

Kermani: Mit der Pointe, dass die Grünen, die Bürgerschreck-Partei von damals, heute diejenigen sind, die sich besonders viel auf Bürgersinn, bürgerliche Tugenden, Gemeinwohlorientierung zugutehalten und sozial die wohlhabendere bürgerliche Klasse vertreten. Aber ich merke auch bei mir selber, wie mein Eintreten für Staat und Gesellschaft als Staatsbürger heute in dem Maße zunimmt, in dem auch die Anfeindungen wachsen – die heute weniger von Linksaußen kommen, sondern aus der reaktionären Ecke. Wenn das die Systemgegner sind, wird man automatisch zum Systemverteidiger.

Woher rührt die Überzeugung, dass unser Staat Ihre Verteidigung verdient, für die Sie erklärtermaßen auch das Pathos nicht scheuen?

Kermani: Also, ein Hurrapatriot bin ich nun nicht gerade. Es gibt in Deutschland genug Kritikwürdiges. Auch und gerade davon rede ich, weil ich davon überzeugt bin, dass der wahre Patriotismus sich in der Selbstkritik erweist. Das unterscheidet ihn vom Nationalismus. Heute sind es insbesondere meine Reisen, die mir verdeutlichen, was wir an unserem eigenen Land mit seinen Freiheiten und seiner Rechtsordnung haben. Und natürlich weiß ich durch das Land meiner Eltern, also durch Iran, was Unfreiheit konkret bedeutet. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind für mich nichts Selbstverständliches, auch nichts, was von selbst existiert. Genau das merken wir doch gerade im Westen, dass Demokratie immer fragil ist und man sich nicht zurücklehnen kann.

Stimmt der Eindruck, dass das Rollenmodell des „politischen Schriftstellers“ heute eher die Ausnahme als die Regel ist – und damit begründungspflichtiger als in der Generation zuvor?

Kermani: Der Typ des politischen Literaten hatte Konjunktur in einer Zeit, in der Autoritäten noch eine viel größere Bedeutung hatten – selbst in der Verneinung. Damals war der Gestus des Welterklärers à la Günter Grass oder Hans Magnus Enzensberger durchaus angemessen und auch bedeutsam. Heute wäre er deplatziert.

Warum?

Kermani: Weil wir die Welt jenseits der Ideologien als viel zu komplex erleben, um sie auf eine Formel – und sei es eine literarische – bringen zu können. Dieser Anspruch hat sich überlebt. Allerdings glaube ich bei Schriftstellern zurzeit eine Renaissance des Politischen mit umgekehrter Stoßrichtung beobachten zu können.

Nämlich?

Kermani: Es ist die Sache des Schriftstellers, private, soziale oder auch metaphysische Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu beschreiben – in gewisser Weise auch, sie gerade nicht verstehbar zu machen, sondern in ihrer Nichtverstehbarkeit, ihrer Ambiguität und Widersprüchlichkeit, ihrem Rätselcharakter darzustellen. Nichts gegen die Vereinfachung! Die braucht es zuweilen sogar, um die Dinge im Alltag, gerade auch im politischen Alltag, mitteilbar zu machen. Das ist der Job von Politikern wie von Journalisten. Aber es braucht auch diejenigen, die die Komplexität nicht auflösen. Das gilt übrigens auch für Reportagen, diesem besonderen Genre zwischen Nachricht und Literatur. Mein Ziel als Reporter ist es gerade nicht, dass die Leser danach „Bescheid wissen“, sondern dass sie Fragen haben, dass sie merken und spüren: So einfach ist das ja gar nicht. Dann wird man weiterhin Zeitung lesen, Radio hören, fernsehen, Statements von Politiker verfolgen – und zugleich ein Bewusstsein dafür haben, dass die Wirklichkeit nicht in Artikeln, Statements oder Reden aufgeht. Das meine ich ausdrücklich nicht als Schelte, sondern als Beschreibung unterschiedlicher Aufgaben, die für die Öffentlichkeit gleichermaßen wichtig sind.

Ihr Auftritt auf einer Anti-Pegida-Kundgebung 2015 oder Ihre Mitwirkung an der „Kölner Botschaft“ nach der Silvesternacht 2015 waren aber noch mehr, nämlich persönliches Bekenntnis.

Kermani: Das stimmt. Aber nichts davon habe ich mir gesucht, sondern es wurde mir angetragen, und ich hatte dann zu entscheiden, ob ich kneife oder ob ich für ein Anliegen, das ich teile, auch geradestehe. Allerdings glaube ich schon, dass das heute dringlicher ist als in der Vergangenheit.

Warum?

Kermani: Weil wir den Vormarsch von Leuten erleben, die eine andere Gesellschaft nicht nur wollen, sondern nach der Macht greifen, sie herbeizuführen. Um es konkret zu machen: Sollte Marine Le Pen zur Präsidentin Frankreichs gewählt werden, ist das Europa, wie wir es kennen, am Ende.

Sie setzen auf eine Gegenmacht der Engagierten?

Kermani: Ich setze darauf, dass an die Stelle der vermeintlichen „Alternativlosigkeit“ in der Politik wieder der lebendige Wettstreit tritt. Und wir sehen ja: Nicht nur Marine Le Pen kann mobilisieren, das kann auch ein Emmanuel Macron. In Deutschland haben die Parteien auf die großen Herausforderungen – denken Sie nur an die Finanzkrise 2009 oder die Flüchtlingskrise von 2015, denken Sie an das ganze Feld der Integration – mit dem Bemühen um einen Konsens reagiert, der im Grunde noch umfassender war als die große Koalition. Das hat uns auch manche Polarisierung erspart, wenn man sieht, wie etwa in anderen Ländern die konservativen Parteien gerade in diesen Fragen dem Nationalismus Raum gegeben haben. Aber ein zu breiter politischer Konsens und zumal eine große Koalition tun auf Dauer keiner Demokratie gut, weil sie die Unterschiede verwischen und zur Passivität führen, diesem Gefühl, die da oben, die sind eh alle gleich. Demokratie lebt von der Auseinandersetzung, vom Streit, nicht von der Einigkeit.

Hätten Sie es für möglich gehalten, dass ein Mann wie Donald Trump in kürzester Zeit die Säulen ins Wanken bringt oder gar zerschlägt, auf denen die offene Gesellschaft ruht?

Kermani: Die Gefahr wurde vor seiner Wahl nicht wahr- oder ernstgenommen. Dieses Versagen der liberalen Öffentlichkeit sollte auch die Medien umtreiben und nach ihrer künftigen Rolle fragen lassen. Ich bin überzeugt, dass sie für umfassende Information der Öffentlichkeit samt Gewichtung unerlässlich sind. In den scheinbar demokratisierten Kommunikationsräumen des Internets kann jeder seine Meinung in die Welt posaunen. Da sollten die Zeitungen nicht in den Überbietungswettbewerb eintreten mit immer noch einer Kolumne samt Autorenbild, wo dann jemand seine Meinung zu etwas sagt, von dem er keine oder jedenfalls nur wenig Ahnung hat. Meinungen haben wir im Internet und in den Talkshows echt genug.

Was empfehlen Sie stattdessen?

Kermani: Wenn Zeitungen überleben und für ihre Leser lebensnotwendig sein wollen, sollten sie auf Redaktionen setzen, die kompetent recherchieren, kenntnisreich berichten. Sie sollten Wert legen auf die Sprache, sich auch sprachliche Eigenheiten, unterschiedliche Stile, komplexe Sätze erlauben und sich vor allem ein Netz von Korrespondenten leisten, die aus der Welt berichten und nicht aus dem Internet. Investigativer Journalismus oder auch mein Metier, die Reportage, sind aufwendig. Es braucht dafür einen Apparat, es braucht finanzielle und personelle Ressourcen, es braucht ein Archiv, ein Netz von Kontakten vor Ort. Ginge das verloren, bräche auch die Informationsbasis weg, auf der sich öffentliche Meinung überhaupt erst bilden kann. Deswegen wünsche ich mir, dass die Zeitungen auf diese ureigene Kompetenz setzen.

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