Stuttgarter Liederhalle Als Gauck wieder zum Pfarrer wird

Ich bin seit sechs Monaten im Amt. Und die Welt ist nicht untergegangen." Dieser Schlusssatz von Bodo Ramelow, dem ersten Ministerpräsidenten aus den Reihen der Linken, geht im tosenden Beifall der vielen Hundert Teilnehmer an seiner Bibelarbeit im Beethoven-Saal der Stuttgarter Liederhalle unter.

 "Ich danke manchmal meinem Schöpfer dafür, dass er die Katholiken erfunden hat" Bundespräsident Joachim Gauck

"Ich danke manchmal meinem Schöpfer dafür, dass er die Katholiken erfunden hat" Bundespräsident Joachim Gauck

Foto: dpa

Das Thema hatte die Leitung des Deutschen Evangelischen Kirchentages vorgegeben: "Klug sein angesichts der Unergründlichkeit des Lebens."

Im nicht weit entfernt gelegenen Hegel-Saal der Liederhalle sprach vor ebenfalls Hunderten von Zuhörern der frühere Bundespräsident Christian Wulff zum gleichen Thema. Er rief zu mehr Gelassenheit im Umgang mit Krisen auf und erinnert sich gern an seine Großmutter, die 102 Jahre alt wurde und ihm einschärfte: "Alles ist für etwas gut. Alles hat zwei Seiten, und auch aus der Niederlage lässt sich meistens etwas lernen."

Politiker gehören schon immer zum 1949 ins Leben gerufenen Deutschen Evangelischen Kirchentag. Sie sind auch als Mitglieder im Präsidium willkommen. Richard von Weizsäcker (CDU), Erhard Eppler und Reinhard Höppner (beide SPD) sowie Katrin Göring-Eckardt von den Grünen haben in der Vergangenheit als Präsidenten das größte protestantische Laientreffen geprägt. Und für den Kirchentag in vier Jahren, der in Dortmund stattfindet, steht der Name des Präsidenten auch schon fest: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD).

Am meisten überraschte in Stuttgart Bundespräsident Joachim Gauck, der vor 10 000 Zuhörern seine staatsmännische Zurückhaltung mehr oder weniger aufgab und wieder ganz der evangelische Pfarrer wurde, der er bis zum Fall der Berliner Mauer in Rostock war. Seit Jahrzehnten der Kirchentagsbewegung (auch in der DDR) verbunden, las er den Kirchentagsbesuchern in Stuttgart die Leviten: Es nütze nichts, "in einen kulturellen Verdruss über diese Zeit" zu kommen. Kein Verständnis zeigte er, dass sich gerade auf Kirchentagen die "Sehnsucht nach dem Schalom auf eine zu banale Weise in Forderungen an die Politik darstellt." Leider gebe es gerade unter Protestanten die Neigung, sich unwohl zu fühlen.

Dann sagte er einen für evangelische Ohren geradezu ketzerischen Satz: "Ich danke manchmal meinem Schöpfer dafür, dass er die Katholiken erfunden hat." Ein Satz, den die Katholiken im Lande wahrscheinlich den Protestanten noch oft unter die Nase reiben werden. Und prompt verlieh ihm die "Stuttgarter Zeitung" den Titel "Der Apostel vom Schloss Bellevue". Immerhin sorgte Gauck für viel Gesprächsstoff in den Tagen des Stuttgarter Kirchentages, zumal sich auch die zahlreichen Friedensinitiativen in Stuttgart freundlich sagen lassen mussten, dass die Frage des Friedens nicht so einfach sei, wie sich das viele vorstellen würden.

Es gab vor und während des Stuttgarter Treffens viel Verdruss darüber, dass zwar alle Verantwortlichen über die Notwendigkeit des Friedens und der Hilfe für Flüchtlinge reden, aber die Friedensinitiativen auf den Podien und in den großen Veranstaltungen kaum zu Wort kommen würden. Sie hatten ihren Platz mit vielen Informationsständen auf dem "Markt der Möglichkeiten".

Gleiches gilt für das Thema "Stuttgart 21", das im Programm nicht thematisiert wurde, aber für viele Stuttgarter nach wie vor ein großes Problem darstellt. Deshalb war für den heutigen Samstag ab 14 Uhr vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof eine große Demonstration geplant, zu der die Veranstalter 8000 Teilnehmer erwarteten. Pfarrer Martin Progmede in Anspielung an die Kirchentagslosung "damit wir klug werden": "Es ist höchste Zeit, dass unsere Politiker klug werden und die Fehlplanung zugeben, statt weiter organisiert wegschauen."

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zog zusammen mit einigen Professoren gestern Vormittag trotz der glühenden Hitze rund 9000 Zuhörer in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle zu dem für einen Kirchentag etwas sperrigen Thema "Digital und klug?" an. Ihre Kernthese - zwischen Rückgriffen auf EKD-Erklärungen und Berliner Regierungserklärungen zu dem Thema - lautete: "Es darf kein Internet ohne Regeln" geben. Sie wurde mit viel Applaus empfangen und immer wieder von Beifall unterbrochen.

Im Gegensatz zu Helmut Kohl (CDU), der in seinen letzten Kanzlerjahren den Deutschen Evangelischen Kirchentag mied, genoss sie sichtlich die Begrüßung von Kirchentagspräsident Andreas Barner, der seiner "besonderen Freude" über ihr Kommen Ausdruck gab. Und sie selbst forderte dazu auf: "Lassen wir uns neugierig auf die neue Welt sein, aber nicht die Maßstäbe vergessen."

Am heutigen Samstag erwarten die Kirchentagsbesucher in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle den früheren Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, sowie Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Ihr Thema: "Die Welt ist aus den Fugen." Für die 100 000 Kirchentagsbesucher ist aber die Welt momentan einfach viel zu heiß. Zumindest in Stuttgart.

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