Verfassungsänderung in der Türkei Tumult im Parlament

Ankara · Mit Drohungen und Einschüchterungen versucht die Regierungspartei, die Verfassungsänderung bei den Abgeordneten durchzusetzen. Einige kontroverse Reformen sind bereits verabschiedet worden.

 Treibende Kraft für den Umbau zum Präsidialsystem: Präsident Recep Tayyip Erdogan könnte bis 2034 an der Macht bleiben, wenn die geplanten Reformen in Kraft treten.

Treibende Kraft für den Umbau zum Präsidialsystem: Präsident Recep Tayyip Erdogan könnte bis 2034 an der Macht bleiben, wenn die geplanten Reformen in Kraft treten.

Foto: dpa

"Das wird noch blutig“, prophezeite ein Beobachter im türkischen Parlament zu Beginn der Verfassungsdebatte in dieser Woche, und er behielt recht. Schon bevor die Aussprache über die Einführung eines Präsidialsystems anfing, hatte ein Oppositionsabgeordneter einen Zahn verloren – ausgeschlagen im Gerangel mit der Polizei vor der Volksvertretung in Ankara. Und das war nur der Auftakt: Auf Biegen und Brechen peitscht die Regierungspartei AKP die Verfassungsänderungen durch das Parlament, das sich damit selbst entmachten soll.

Mit allen Mitteln bis hin zu Drohungen und Einschüchterungen wird dabei gearbeitet, und das offenbar mit Erfolg. Die kontroversesten Artikel wurden in ersten Lesungen diese Woche schon abgenickt, sodass auch bei der Schlussabstimmung noch vor Ende des Monats mit einem Ja zu dem Gesamtpaket zu rechnen ist, das dann im April mit einer Volksabstimmung verabschiedet werden soll.

Vergeblich richtete Sami Selcuk, als früherer Vorsitzender des Berufungsgerichtshofes einer der anerkanntesten Juristen im Land, einen flammenden Appell an alle Abgeordneten, Rechtsgelehrten und Wähler im Land und sogar an Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, dem die Verfassungsänderung auf den Leib geschneidert ist.

Wenn die Türkei diese Reform verabschiede, werde sie kein Verfassungsstaat mehr sein, schrieb Selcuk in seinem „J’Accuse“ in der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“. „Selbst ein demokratisch denkender Präsident wäre in diesem System gezwungenermaßen ein Diktator, er müsste zwangsläufig ein totalitäres Regime führen.“ Und dann machte Selcuk noch eine Prophezeiung: „Auch jene, die diesen Text heute unterstützen, werden von ihm versklavt werden und noch den Tag bereuen, an dem sie geboren wurden.“

Das könnten vermutlich heute schon einige der Volksvertreter unterschreiben, denen die Regierung die mindestens 330 notwendigen Stimmen abverlangt – die 316 AKP-Abgeordneten und die 39 Vertreter der nationalistischen MHP, deren Vorsitzender Devlet Bahceli das Vorhaben mitträgt. Einen immensen Druck haben die Parteiführungen auf die Abgeordneten aufgebaut, die eigentlich frei, geheim und nur ihrem Gewissen verpflichtet über diesen Umbau der Republik abstimmen sollten.

Mit triumphierend hochgehaltenen „Nein“- und „Enthaltung“-Chips kommen Minister und führende Abgeordnete aus den Wahlkabinen, um zu zeigen, dass sie den „Ja“-Chip eingeworfen haben; die Hinterbänkler sollen dadurch genötigt werden, ebenfalls offen abzustimmen.

Vergeblich schreien die Oppositionsabgeordneten dazu „verfassungswidrig“ und fotografieren mit ihren Handys die Regelverletzungen. „Soll ich mir von Dir etwas sagen lassen?“, höhnte Gesundheitsminister Recep Akdag einem Oppositionsvertreter ins Gesicht. Immer wieder kocht im Plenum die Wut hoch, fallen die Abgeordneten mit den Fäusten übereinander her.

Zimmerpflanzen und Blumentöpfe segeln durch die Luft, ein AKP-Abgeordneter will gar von einem Oppositionsabgeordneten ins Bein gebissen worden sein. Die Stimmung wird nicht dadurch verbessert, dass die Volksvertreter jede Nacht bis drei oder gar fünf Uhr morgens arbeiten und abstimmen müssen – da kennt das Parlamentspräsidium keine Gnade.

Erdogan hat die Losung ausgegeben: Ob es nun 14 Tage dauere oder einen Monat, am Ende werde die Verfassungsänderung vom Parlament abgenickt und zur Volksabstimmung geschickt, kündigte der Präsident in dieser Woche wieder an. Damit das auch wirklich klappt, machten die Parteiführungen noch einmal Feuer unter ihren Abgeordneten: Wenn die Reform nicht durchgehe, werde es Neuwahlen geben, kündigten MHP-Chef Bahceli und der AKP-Verfassungsexperte Mustafa Sentop an. Die Drohung kommt bei den Abgeordneten an, denn wer bei Neuwahlen wieder kandidieren darf, das bestimmen die Parteiführungen – und die suchen sich ihre Kandidaten nach Wohlverhalten aus.

Dennoch halten sich Gerüchte in den Parlamentskulissen, dass bis zu 20 Abgeordnete in der zweiten Abstimmungsrunde nächste Woche kneifen könnten. Präsident Erdogan legte deshalb am Freitag noch einmal nach: Wenn das Parlament nicht funktioniere, werde es eben aufgelöst, sagte er. Um ihren guten Ruf oder auch nur den Eindruck, dass es sich um eine demokratische Reform handele, muss sich die AKP ohnehin nicht mehr kümmern, bedenkt man die Umstände der Verfassungsreform.

Das Land befindet sich seit einem halben Jahr im Ausnahmezustand und wird von Erdogan mit Notstandsdekreten regiert – eine Lage, in der eine Verfassungsänderung nach Ansicht vieler Juristen gar nicht unternommen werden dürfte. Dazu kommt, dass fast jeder fünfte Abgeordnete der zweitstärksten Oppositionspartei HDP hinter Gittern sitzt und nicht mit abstimmen kann – weggesperrt nach eben jenen Notstandsdekreten und ohne Anklage oder Prozess.

Und so flutschte in dieser Woche ein haarsträubender Artikel nach dem anderen durch das Parlament. Mit 343 von 550 Stimmen votierte die Volksvertretung in den frühen Morgenstunden am Donnerstag dafür, sich selbst das Recht auf Kontrolle der Exekutive abzuerkennen. Auch die Abschaffung des parlamentarischen Rechts auf Misstrauensvoten gegen Minister fand eine Mehrheit von 343 Stimmen.

Und mit 340 Ja-Stimmen votierte die Volksvertretung am frühen Freitagmorgen für die besonders kontroverse Neuerung, wonach der Staatspräsident künftig auch zu Friedenszeiten per Dekret regieren kann. „Ich hätte mir gewünscht, dass unser Volk gegen solch eine Ordnung aufsteht“, schrieb Richter Selcuk. „Ich frage euch alle: Dürfen wir unsere Kinder, Enkel und künftige Generationen dieser Sklaverei ausliefern?“

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