Kommentar zum Stand der deutschen Einheit Gespalten

Meinung · Der Jahrestag der deutschen Einheit steht vor der Tür und damit auch die nächste Einheitsbilanz. So wie Angela Merkels „Wir schaffen das“ die Flüchtlingsdebatte bestimmt hat, sollten Helmut Kohls „blühende Landschaften“ jahrelang ein Synonym für die Entwicklung im deutschen Osten sein. Damit ist spätestens seit gestern Schluss.

Denn der neue Jahresbericht – geschrieben von einer ostdeutschen Sozialdemokratin – macht Schluss mit Jubel, Trubel, Träumerei.

Natürlich geht es dem Osten Deutschlands besser als zu DDR-Zeiten, natürlich haben die nicht mehr neuen Bundesländer deutlich aufgeholt, aber der Aufholprozess hat sich wirtschaftlich so verlangsamt, dass sogar Rückschritte zu befürchten sind. Gesellschaftlich ist die Spaltung ganz und gar nicht überwunden – sie vertieft sich gerade wieder. Und das ist der Vorbote einer Katastrophe, wenn nicht endlich gehandelt wird. Erste Voraussetzung: das Kind beim Namen nennen und Schluss machen mit Verniedlichung und Schönfärberei. Ja, es gibt blühende Landschaften im Osten, vor allem aber wächst der braune Sumpf mit allen Rückwirkungen auch auf die wirtschaftliche Entwicklung.

Die Statistik ist da eindeutig: Die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten liegt in Ostdeutschland bis zu fünfmal höher als im Westen. Spitzenreiter ist Mecklenburg-Vorpommern, also die Gegend, in der die wirtschaftliche Entwicklung besonders schleppend vorankommt, in der die Abwanderung besonders stark ist und in der Ausländer eher eine Seltenheit sind. Die Debatte darüber ist nicht mit dem stereotypen Gegenargument, auch in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg würden ja Flüchtlingsheime brennen, zu erledigen.

Die Statistik nennt nur die festgestellten Gewalttaten. Die tatsächliche Zahl kennt sie nicht ebenso wenig die stillschweigende Billigung dieser Straftaten durch weite Bevölkerungskreise. Der Rechtsextremismus ist im Osten eine feste Größe; Fremdenhass verfestigt sich. Dass die Extreme sich berühren, lässt sich dabei gut an Wahlergebnissen belegen. Gerade vergangenen Sonntag wieder. Berlin ist eine geteilte Stadt geblieben. Zur SED-Nachfolgerin Die Linke, die im Ostteil der Stadt stärkste Partei bleibt, gesellt sich eine AfD mit deutlich höherem Stimmenanteil als im Westen der Hauptstadt. Der Wutbürger hat ein neues Ventil.

Beinahe naiv mutet angesichts dieser Befunde der Therapieversuch des Jahresberichts an – etwa wenn der Bevölkerungsschwund mit Hilfe von Flüchtlingen ausgeglichen werden soll. Ausgerechnet dort, wo Ausländerhass kein Ausnahmephänomen ist. Es wäre sehr angemessen, wenn die Bundeskanzlerin mit Blick auf den Osten ihren Bürgern ein neues „Wir schaffen das“ zurufen würde. Tut sie natürlich – gebranntes Kind, das sie ist – nicht. Stattdessen schafft der Osten sich selbst ab – wenn es so weitergeht.

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