Opfer von Zwangsarbeit Gedemütigt, geschlagen, ausgebeutet

Genf · Die Schweiz will ehemalige Verdingkinder entschädigen. Sie sollen jeweils eine "Solidaritätszahlung" von bis zu 23.000 Euro erhalten.

 Profilierte sich als treibende Kraft für das Schuldeingeständnis: Die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga.

Profilierte sich als treibende Kraft für das Schuldeingeständnis: Die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga.

Foto: dpa

Für den kleinen Pauli beginnt der Arbeitstag um vier Uhr morgens. Stall ausmisten, Milch ins Dorf tragen, sensen. Pauli muss auf einem Bauernhof in dem Schweizer Dorf Nusshof bei Basel schuften. Vor der Schule, nach der Schule. Mit der Bauernfamilie darf er nicht am Tisch sitzen. Abends im Bett heult Pauli, das sogenannte Verdingkind. Die Schweizer Behörden hatten Pauli in den Fünfziger Jahren seinen Eltern weggenommen. Vater und Mutter konnten für ihren Sohn nicht sorgen. Zunächst kam er in ein Heim. Danach malochte er 13 Jahre lang auf dem Hof. „Als Verdingbub warst du ein Nichts“, fasst Paul Richener (67) die schlimme Zeit zusammen. Sein Fall ist einer von vielen: Noch rund 15 000 Männer und Frauen leben in der Schweiz, die in ihrer Kindheit und Jugend schwere Diskriminierung, Erniedrigung und Gewalt erdulden mussten.

Jetzt stellt sich die Eidgenossenschaft diesem düsteren Kapitel ihrer Geschichte: Die früheren Verdingkinder und andere Opfer von Zwangsarbeit sollen jeweils eine „Solidaritätszahlung“ von bis zu 23 000 Euro erhalten. Insgesamt stellt die Schweiz rund 276 Millionen Euro für die betagten Menschen bereit. Das entschied das Parlament am Freitag in Bern. Im neuen „Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981“ erkennt die Schweiz ausdrücklich das Unrecht an. Für viele Opfer kommt die Wiedergutmachung zu spät.

Die „Fürsorge“ der Eidgenossen war bis 1981 von ganz spezieller Natur: Die Behörden konnten Kinder von Armen und Alkoholikern in Heime sperren oder zur Zwangsadoption freigeben. Zu den Opfern zählten auch Waisenkinder und Kinder geschiedener Eltern. Viele Jungen und Mädchen wurden wie Paul Richener an Bauern oder kleine Betriebe gegeben, wo sie faktisch Zwangsarbeit leisten mussten. Die kleinen Knechte und Mägde wurden gedemütigt, geschlagen und nicht selten sexuell missbraucht. Zudem ordneten die Ämter Zwangssterilisierungen bei sozial schwachen und kranken Menschen an. Viele Opfer blieben ihr Leben lang traumatisiert.

Später verdrängte die offizielle Schweiz das Thema. Erst 2013 erinnerte die Regierung an die Qualen der Kinder. Als treibende Kraft für das Schuldeingeständnis profilierte sich Justizministerin Simonetta Sommaruga von den Sozialdemokraten. Auch die Wiedergutmachungsinitiative ließ nicht locker: Die Aktivisten forderten lange einen Hilfsfonds für die überlebenden Opfer. Den Entschluss des Parlaments lobte Guido Fluri von der Initiative jetzt als „historisch“.

Ehemalige Verdingkinder wollen aber nicht, dass die Leiden wieder in Vergessenheit geraten. Paul Richener, der es in Nusshof bis zum Bürgermeister gebracht hat, arbeitet an einem Buch, „das meine Vergangenheit in allen Einzelheiten wiedergibt“. Die Erinnerungen sollen 2017 erscheinen.

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