Unruhen in der Ost-Ukraine "Die Russen sind da" - Ein Krieg der Gerüchte

SLAWJANSK · In Slawjansk herrscht sehr ungute Stille. Die Mobilfunkläden und Pfandhäuser im Zentrum sind geschlossen, der Autoverkehr tröpfelt, vor den Barrikaden an der Geheimdienstzentrale aber hält ein staubgrauer Lada-Kleinwagen. Ein junger Mann steckt sein unrasiertes Gesicht heraus: "In Donezk", ruft er, "sind russische Truppen."

Schwerbewaffnete prorussische Kämpfer halten das Geheimdienstgebäude, die Polizeihauptwache und das Rathaus von Slawjansk zwei Autostunden nordöstlich der ostukrainischen Gebietshauptstadt Donezk besetzt. Die Einwohner haben auch die Ortseinfahrten verbarrikadiert, dort stehen Hunderte Menschen, bewaffnet mit Sturmgewehren, Baseballschlägern und Plakaten, um die Panzer aufzuhalten.

Am Sonntagabend hatte der ukrainische Präsident Alexander Turtschinow eine "weiträumige antiterroristische Militäraktion" gegen die Separatisten angekündigt. Sie sollte gestern Morgen beginnen. Aber gerade weil sich danach keinerlei ukrainische Truppen zeigten, schwirren in der 100.000-Einwohner-Stadt immer hitzigere Gerüchte.

Die russischen Truppen in Donezk entpuppen sich als glatte Falschmeldung. Aber der unrasierte Lada-Fahrer hat noch mehr Nachrichten. "In der Stadt fahren Leute in einem weißen Schiguli und einem dunkelblauen Opel herum, die Fußgänger erschießen." "Das sind bestimmt Faschisten aus der Westukraine", seufzt eine Frau. Tatsächlich kamen vorgestern in Slawjansk ein Fußgänger und ein Passant bei einer Schießerei ums Leben. Aber wer geschossen hat, ist völlig unklar. Nicht allein in Slawjansk, in der gesamten Ostukraine verzerren Propaganda und Gegenpropaganda die Wirklichkeit.

Wie im März auf der Krim erwarten die prorussischen Demonstranten jetzt hier Gräueltaten der "westukrainischen Faschisten". Monatelang malten Viktor Janukowitschs ukrainische Staatsmedien dieses Feindbild an die Wand, nach dessen Sturz arbeiteten die russischen Fernsehsender im Stundentakt weiter daran. Und Wjatscheslaw Ponormarjow, der "Volksbürgermeister" der Slawjansker Separatisten, verkündete gestern auf einer Pressekonferenz: "Wir bitten Wladimir Putin, alles zu tun, um den Genozid am Volk des Donbass zu verhindern."

Die neue prowestliche Staatsmacht in Kiew hat alle russischen Fernsehsender inzwischen per Gerichtsbeschluss abschalten lassen. Aber viele Ostukrainer empfangen sie über Internet oder Satellitenschüssel weiter. "Die russischen Abendnachrichten haben die Hirne völlig ausgehöhlt", sagt der Lugansker Bürgerrechtler Nikolai Kusmitsch. "Die Leute sind in kafkaeske Denk- und Verhaltensschemen geraten." Rentnerinnen in Slawjansk klagen, die faulen Westukrainer hätten monatelang für Geld auf dem Maidan gesessen. "Und jetzt bauen sie sich neue Häuser."

Die ukrainischen Sender der neuen Kiewer Staatsmacht verhöhnt man hier als "Zombie-Kästen". Diese meldeten am Samstag und Sonntag heftige Kämpfe in der Stadt, tatsächlich macht niemand auch nur Anstalten, die Stadt anzugreifen.

Tatsächlich entfernt sich auch die ukrainische Gegenpropaganda mehr und mehr von der Realität. Berühmt-berüchtigt sind inzwischen die Neuigkeiten, die Innenminister Arseni Awakow twittert. Außer der angeblichen Schlacht von Slawjansk meldete er am Wochenende Besetzungen von Polizeihauptwachen in mehreren ostukrainischen Kreisstädten, danach deren Befreiung durch Sicherheitskräfte oder proukrainische Demonstranten. Dramatische Ereignisse, die zum Großteil gar nicht stattfanden.

Die wirkliche Lage im Donbass ist bedrohlich genug. Inzwischen halten die Separatisten die Polizeiwachen von Gorlowka und Kramatorsk, die Gebietsverwaltung von Donezk, die Geheimdienstzentralen von Lugansk und den Stadtrat von Mariupol. In Gorlowka soll der Polizeichef von prorussischen Kämpfern totgeschlagen worden sein. Es gibt Meldungen von Truppenbewegungen Richtung Mariupol. Aber es ist unklar, ob diese Nachrichten der Wirklichkeit entsprechen.

Vor der Geheimdienstzentrale von Slawjansk aber bremst ein Uralmotorrad. "Die Panzer sind da", meldet der Fahrer aufgeregt. "Sie haben die vordersten zwei Barrikaden schon niedergewalzt." Auch diese Meldung stellt sich als Gerücht heraus.

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