Interview mit Hannelore Kraft "Das Wir entscheidet"

DÜSSELDORF · Im Interview mit dem Genral-Anzeiger spricht Hannelore Kraft, nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin und stellvertretenden SPD-Vorsitzende, über 150 Jahre Sozialdemokratie, Werte und Wandel und die SPD in 20 Jahren.

Einmal Sozialdemokratin - immer Sozialdemokratin?
Hannelore Kraft
: Für mich gilt das. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität - das sind für mich und viele andere in unserer Partei wichtige Werte.

Warum ist die SPD Ihre Partei geworden?
Kraft: Ich bin zu Hause mit Politik aufgewachsen. Mit meinem Vater habe ich auf dem Sofa Bundestagsdebatten geguckt - damals gab es ja auch noch nicht 60 Programme. Die SPD war für mich die Partei, die Aufstieg durch Bildung möglich gemacht hat. Ohne BAföG hätte ich nicht studiert. Deshalb ist Bildung für mich auch heute immer noch ein so zentrales Thema.

Also war Ihr Elternhaus sozialdemokratisch geprägt?
Kraft: Ja schon, aber meine Eltern waren damals keine Mitglieder.

[kein Linktext vorhanden]Sie haben die SPD-Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erwähnt. Was bedeuten sie heute?
Kraft: Solidarität heißt auch heute, die Gesellschaft zusammenzuhalten, die Spaltung in Arm und Reich zu bekämpfen. Kurz: Das Wir entscheidet. Gerechtigkeit muss man immer noch über ein vernünftiges Bildungssystem herstellen. Doch Gerechtigkeit ist auch der Kampf für gute Arbeit, zum Beispiel über einen gesetzlichen Mindestlohn, damit die Menschen von ihrer Arbeit auch leben können. In der Gründungszeit der SPD ging es um menschenwürdige Arbeitsbedingungen oder um das Frauenwahlrecht. Heute müssen wir über die wachsenden sozialen Fliehkräfte oder die Frauenquote reden. Die Kernthemen sind die gleichen geblieben. Schön, dass wir uns in der SPD auf diese lange Tradition verlassen können und immer für das Gleiche gestanden haben.

Interview mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
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Gerhard Schröder hat einmal in einem Gespräch mit Helmut Schmidt gesagt, die SPD sei immer eine Partei gewesen, die lieber gibt als nimmt, die den Leuten nicht weh tun will. Können Sie damit etwas anfangen?
Kraft: Da habe ich eine andere Meinung. Wir stehen für unsere Überzeugungen. Wichtig ist, dass wir von einem soliden Wertefundament aus entscheiden.

Gibt es für Sie bei den drei Werten eine Hierarchie?
Kraft: Nein. Wenn überhaupt, dann würde ich die Gerechtigkeit nennen. Schon in der Schule konnte ich Ungerechtigkeit nicht ertragen.

Wie sehen Sie die Partei heute am 150. Geburtstag - und vier Monate vor der Bundestagswahl?
Kraft: Das Jubiläum ist gerade im Jahr der Bundestagswahl für uns eine große Chance. Wir stehen seit 150 Jahren für gemeinsame Überzeugungen und Werte und das wird uns helfen.

Wie soll das gehen?
Kraft: Ein Beispiel: Ich war neulich im Kommunalwahlkampf in Wiesbaden. Da fragte mich einer, wo liegen denn die Unterschiede zwischen den Parteien? Ich hab gesagt: Gucken Sie nicht auf die aktuellen Debatten, gucken Sie darauf, ob eine Partei in einer langen Linie für die gleichen Überzeugungen kämpft. Wofür standen die Parteien in ihrer Geschichte, was waren die Herausforderungen, wie haben sie darauf reagiert? Die CDU schwimmt doch zurzeit. Die hat keine klare Orientierung mehr.

Und was fehlt Ihrer Partei?
Kraft: Ich glaube nicht, dass uns viel fehlt. Wir haben ein gutes Programm, wir haben einen guten Kandidaten, wir haben 150 Jahre die gleichen Ziele einer sozial gerechteren Gesellschaft und wir sind gute Wahlkämpfer. Ich bin da sehr zuversichtlich.

[kein Linktext vorhanden]Demnach würden Sie nicht sagen, dass Angela Merkel ihre Partei sozialdemokratisiert hat?
Kraft: Nein. Sie versucht, Etiketten aufzukleben, aber die Flaschen dazu sind leer. Die Lohnuntergrenze ist kein echter flächendeckender Mindestlohn, die Flexiquote ist keine echte Frauenquote, sondern eine Fortsetzung der bisherigen freiwilligen Lösung, die bisher schon nicht erfolgreich war. Wir werden im Wahlkampf deutlich machen, dass wir es sind, die gegen Lohndumping und die Ausweitung unsicherer Arbeitsverhältnisse kämpfen und dafür, dass Regelarbeitsplätze wieder zum Normalfall werden.

Für diese Themen steht im SPD-Kompetenzteam IG-BAU-Chef Klaus Wiesehügel. Kann Peer Steinbrück authentisch sein, wenn er einen der schärfsten Agenda-Kritiker zum Schatten-Arbeitsminister macht?
Kraft: Wiesehügel war ja nicht ein Kritiker von Steinbrück.

Aber von Schröders Agenda-Politik, hinter der auch Steinbrück stand.
Kraft: Wir standen alle dahinter.

Wiesehügel aber nicht.
Kraft: Wir haben intensiv und ernsthaft darüber diskutiert, was gut war und wo wir korrigieren müssen, weil die Entwicklung anders als geplant verlief. Aus Fehlern haben wir gelernt, beim Missbrauch in der Leih- und Zeitarbeit zum Beispiel. Ein Politiker, der nicht lernfähig ist, ist kein guter Politiker.

Zum Gerechtigkeitswahlkampf, den es wahrscheinlich geben wird, gehört auch eine Steuererhöhungs-Debatte. Richtig?
Kraft: Falsch. Wir führen keine Steuererhöhungs-Debatte. Wir führen eine Debatte darüber, wie wir es schaffen, einen handlungsfähigen Staat auskömmlich zu finanzieren. Wir müssen in Deutschlands Zukunft investieren: dringend die Infrastruktur wieder instandsetzen und die Qualität der Bildung steigern und so finanzieren, dass die Ergebnisse rauskommen, die wir, die aber auch die Wirtschaft erwarten. Zu Bildung gehört auch die stark wachsende U3-Betreuung und immer mehr junge Menschen wollen studieren. Das ist alles gut. Für diese wachsenden Aufgaben brauchen wir auch wachsende Einnahmen.

Fehlt Ihnen das Verständnis, wenn beispielsweise Beamte gegen maßvolle Einschnitte demonstrieren?
Kraft: Das Verständnis habe ich. Wir würden ja nichts lieber tun, als ihnen die Erhöhung zu geben. Aber wir müssen die Ausgaben senken, um die Null-Schulden-Grenze bis 2020 zu erreichen, die Verfassungsrang hat. Und da kann man nun mal keine insgesamt 1,3 Milliarden Euro in zwei Jahren an Gehaltserhöhung weitergeben.

Gehen wir noch mal zu der langen Linie in der SPD zurück. Was sind die entscheidenden Wegmarken in der Geschichte der Partei?
Kraft: Eine zentrale rote Linie war, ist und bleibt der Einsatz für bessere Bildung. Das fing schon mit den Arbeiterbildungsvereinen an. Schon damals hieß es: Wer wirklich dafür sorgen will, dass Menschen teilhaben können an der Gesellschaft, am Fortschritt, der muss dafür sorgen, dass sie eine gute Bildung genießen können. Unabhängig von der Herkunft.

Noch ein Punkt:
Kraft: Auch das Frauenwahlrecht war ein Riesenschritt. Heute haben wir vier Ministerpräsidentinnen und eine Bundeskanzlerin. Außerdem sind wir die einzige Partei in Deutschland, die nie den Namen wechseln musste, das macht uns stolz.

Haben Sie ein politisches Vorbild?
Kraft: Nein. Man muss Politik aus sich selbst heraus machen. Ich kann nicht jemanden abkupfern oder nachahmen. Wer Politik macht, muss mit sich im Reinen sein. Die Art, wie man Politik macht, muss auch zum Menschen passen.

Wo steht die SPD in 20 Jahren?
Kraft: Ich fürchte, es wird ein weiter zersplittertes Parteiensystem geben, was Politik nicht einfacher machen wird. Wir werden als SPD aber immer noch eine Volkspartei sein und wir werden weiterhin für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität kämpfen. Ich denke, da wird noch einiges zu tun sein, auch in den nächsten 20 Jahren.

Hannelore Kraft über SPD-Prominente

Ferdinand Lassalle?
Kraft: Das war jemand, der sich aus seiner wohlhabenden Situation heraus für andere eingesetzt hat, denen es nicht so gut ging und für den Bildung der Schlüssel für alle Türen war.

Rosa Luxemburg?
Kraft: Eine Politikerin, die in ihrer Generation einzigartig war.

Reichspräsident Friedrich Ebert?
Kraft: Ein Sozialpolitiker und Gewerkschafter aus tiefer Überzeugung.

Otto Wels?
Kraft: Ich bin stolz, in seiner Tradition zu stehen. Unter seiner Führung widerstanden die Sozialdemokraten Hitlers Ermächtigungsgesetz. Wenn man sich klar macht, was das für ihn und seine Genossen bedeutet haben muss, was damit an Bedrohung für Leib und Leben einherging, das war wahrlich vorbildlich.

Herbert Wehner?
Kraft: Wenn ich an ihn denke, erinnere ich mich an harte Bundestagsdebatten und markige Sprüche.

Willy Brandt?
Kraft: Es gibt ja viele bei uns, die durch ihn in die Partei gekommen sind. Dafür war ich damals noch zu jung. Ich habe ihn nicht kennenlernen dürfen. Für die Sozialdemokratie hat er viel erreicht.

Annemarie Renger?
Kraft: Eine Klasse-Frau und Vorkämpferin für Frauen in der Politik.

Helmut Schmidt?
Kraft: Ich erinnere mich gern an seine große Rede auf dem Parteitag in Berlin zur Zukunft Europas.

Oskar Lafontaine?
Kraft: Jemand, der uns verlassen hat. Das war eine Zäsur.

Heide Simonis?
Kraft: Die erste Frau als Ministerpräsidentin, ein wichtiger Schritt.

Franz Müntefering?
Kraft: Seinen Rat habe ich immer sehr geschätzt.

Zur Person
Hannelore Kraft, 1961 in Mülheim an der Ruhr geboren, ist seit 1994 Mitglied der SPD. 2000 wurde sie in den Landtag gewählt und bereits ein Jahr später Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten. 2002 bis 2005 war sie Wissenschaftsministerin. Seit 2010 ist sie Ministerpräsidentin. Seit 2007 ist sie SPD-Landesvorsitzende, seit 2009 stellvertretende SPD-Vorsitzende.

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