Dirigenten-Legende Vor 60 Jahren: Arturo Toscanini starb in New York

BONN · Vom Publikum umjubelt, von seinen Musikern gefürchtet und zugleich geliebt: Unter den großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts ist Arturo Toscanini für viele der größte. Vor 60 Jahren starb er in New York.

 Am Conservatorio Giuseppe Verdi in Mailand hütet man Exponate aus dem Nachlass Toscaninis wie einen Schatz.

Am Conservatorio Giuseppe Verdi in Mailand hütet man Exponate aus dem Nachlass Toscaninis wie einen Schatz.

Foto: dpa

Was so alles passiert, wenn eine bunt zusammen-gewürfelte italienische Operntruppe in Südamerika auf Tournee geht. Für den Abend des 30. Juni 1886 ist im Imperial Teatro von Rio de Janeiro Verdis „Aida“ angesetzt. Ein junger Cellist des Orchesters behauptet später, den Nachmittag dieses Tages habe er damit verbracht, in seiner Pension mit einer Choristin Schumannsche Lieder durchzugehen.

Eine andere Version der Geschichte hat mit Schumann und Liedern wenig oder besser: gar nichts zu tun. Wie auch immer: Der junge Mann nimmt anschließend die Straßenbahn und fährt zum Dienst ins Theater. Dort ist die Hölle los.

Orchester, Chor und Solisten kommen mit dem vorgesehenen brasilianischen Dirigenten überhaupt nicht zurecht, weigern sich, mit ihm zusammenzuarbeiten, sein italienischer Stellvertreter wird vom aufgebrachten Publikum schon vor dem ersten Takt aus dem Saal gepfiffen. Im allgemeinen Chaos fällt der Name des jungen Cellisten, der angeblich die Partitur so gut kennt.

Der gerade mal 19-Jährige nimmt den Dirigentenstab, geht zum Podium und dirigiert die „Aida“ – auswendig, vom ersten bis zum letzten Takt. Der Rest ist Geschichte, von der die Lokalzeitung „A Evolução“ das erste kleine Kapitel schreibt: „Ein Bravo der begnadeten Jugend! Dieser bartlose Maestro, der seinem Taktstock das heilige künstlerische Feuer und dem Orchester die Energie und Leidenschaft eines genuinen Künstlers mitzuteilen verstand, ist ein Wunder.“

Das Wunder trägt einen Namen, es heißt Arturo Toscanini und ist ein Schneiderssohn aus Parma, geboren vor 150 Jahren, am 25. März 1867. Gerade hat er die Abschlussprüfung am Konservatorium seiner Heimatstadt bestanden, mit Auszeichnung und als bester Absolvent seines Jahrgangs. Der Name Toscanini wird zum Synonym werden für den Dirigenten schlechthin; wenn man nach den großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts fragt, wird man häufig Toscanini als Antwort bekommen.

Gloriose Aufführungen

Toscanini ist der erste globale Dirigent, der erste, der regelmäßig zwischen der alten und der neuen Welt pendelt, der als Musikdirektor der Mailänder Scala wieder Schliff und Glanz verleiht und der Metropolitan Opera in New York gloriose Aufführungen beschert, der Wagner nach Italien und Puccini nach Amerika bringt, der die Attraktion der Festspiele von Salzburg und Bayreuth ist und in den Opernhäusern und Konzertsälen von Buenos Aires bis London umjubelt und umschwärmt wird.

Arturo Toscanini ist 70, als er das größte Geschenk bekommt, das man einem Dirigenten machen kann: ein eigenes Orchester. Amerikas National Broad-casting Company spendiert dem agilen Maestro das NBC Symphony Orchestra. 17 Jahre lang leitet Toscanini dieses Orchester – heute profitiert die Musikwelt von den Rundfunk- und Fernseh-Aufnahmen aus dieser Zeit, die zu verstehen helfen, was das Faszinierende an Toscanini ausgemacht hat.

Als das Orchester nach dem letzten Auftritt mit Toscanini 1954 aufgelöst wird, gründen etliche Mitglieder ein neues Ensemble unter dem Namen „Symphony of the Air“. Das erste Konzert geben sie mit leerem Pult – „einzig mit dem inspirierenden Gedanken an Ihre uns führenden Hände vor uns“.

Es gibt viele kluge Ausführungen über Toscaninis Art des Dirigierens, aber nur wenige Erklärungen dazu von ihm selbst. „Die heutigen Dirigenten“, hat er einmal gesagt, „wetteifern im allgemeinen darin, sich voneinander zu unterscheiden, so dass man von der Pastorale von X oder der Eroica von Y sprechen kann und dabei völlig vergisst, dass Beethoven der alleinige Schöpfer ist. Es hat den Anschein, dass sie aus der Partitur immer ein bisschen von allem ausgraben wollen – nur nicht das, was darin steckt.“

Als Toscanini mit dem BBC-Orchester den ersten Satz von Beethovens ursprünglich Napoleon Bonaparte gewidmeter „Eroica“ probt, fährt er das Orchester an: „Das ist nicht Napoleon. Das ist nicht Hitler. Das ist nicht Mussolini. Das ist Allegro con brio. Noch einmal von vorn.“ Schöner kann man sein Musikverständnis nicht ausdrücken.

Prägnanz und Präzision

Wenn man in Kategorien denken will, so steht Toscanini gewiss für den in seiner Zeit nicht immer sonderlich ernst genommenen Begriff der Werktreue. Er räumt auf mit Schlendrian und Schlampigkeiten, er setzt auf Prägnanz und Präzision, auf Genauigkeit auch im Emotionalen. Der Schriftsteller Stefan Zweig, befreundet mit dem Dirigenten, hat versucht, das Besondere der Toscanini-Interpretationen zu beschreiben.

„In geheimnisvoller Transfusion“, schreibt Zweig, „strömt etwas von seiner elek-trisch geballten Energie in jeden Nerv und Muskel, sei es der Mitschaffenden, sei es der bloß Genießenden, über. Toscaninis Wille, einmal dem Werke zugewandt, hat sofort die Macht eines heiligen Terrors ...; mit seiner entladenen Spannungskraft erweitert er gewissermaßen das musikalische Gefühls-volumen jedes Menschen über das bislang gültige Maß, er steigert die Kräfte, die Fähigkeit jedes Musikers.“

Schon Stefan Zweig ahnte, dass sich so etwas „nicht friedlich und gemächlich“ vollziehen kann. Toscaninis Musiker-Beleidigungen, seine Wutausbrüche in den Proben, seine Tobsuchtsanfälle sind legendär. Er zerbricht Taktstöcke, wirft Notenständer um, demoliert Garderoben, zerreißt sein Frackhemd, vor den Augen der Musiker zertritt er seine goldene Sprungdeckeluhr. Drei Tage später sieht er auf seinem Pult eine ähnliche Uhr. Darauf ist eingraviert: „Das New Yorker Philharmonische Orchester seinem verehrten Meister zur weiteren Benutzung während der Proben.“

Toscanini ist kein weltabgewandter Orchester-Tyrann, sondern einer, der das politische Geschehen seiner Zeit aufmerksam verfolgt. Kurzzeitig hat er mit Mussolini geliebäugelt, um spätestens nach dem Marsch auf Rom mit dem Duce Schluss zu machen. Bayreuth sieht ihn nach Hitlers Machtergreifung nie wieder, trotz des Flehens von Winifred Wagner und eines Hitler-Briefes.

Viel fotografiert und gefilmt

„Ich verlasse Bayreuth angewidert und erbittert“, schreibt Toscanini. „Ich kam dorthin mit dem Gefühl, mich einem wahren Heiligtum zu nähern und ich verließ ein banales Theater.“ Der Maestro protestiert auf seine Weise: 1936 dirigiert er in Tel Aviv das erste Konzert des neu gegründeten Palestine Orches-tra, des späteren Israel Philharmonic Orchestra, 1937 emigriert er in die Vereinigten Staaten.

Im Zweiten Weltkrieg ist er bei Konzerten für amerikanische Kriegsanleihen und für das amerikanische Rote Kreuz dabei. Präsident Roosevelt schreibt ihm: „Der großartige Beitrag, den Sie in der Welt der Musik geleistet haben, wurde seit je erhöht durch Ihre menschliche und selbstlose Verehrung der Sache der Freiheit.“

Toscanini ist viel fotografiert und gefilmt worden. Man kann ihn bei der Arbeit sehen, beim Dirigieren, einen kleinen Mann, 1,60 Meter groß, der bohrende, glühende Blick verrät etwas von der Leidenschaft, vom Kampf um das Vollkommene. Toscanini dirigiert immer auswendig, er hat ein fotografisches Gedächtnis. Statistiker haben nachgezählt: Er hat 117 Opern von 53 Komponisten aufgeführt, dazu mehr als 480 Werke von 175 Komponisten im Konzertsaal. Verdi, Wagner, Puccini, Brahms und Beethoven – das waren seine musikalischen Götter.

Die privaten Aufnahmen hingegen zeigen einen entspannten, charmanten, freundlichen Menschen, der sich in seiner Großfamilie, im Kreise der Kinder und Enkel sichtlich wohl fühlt. Die Ehe mit seiner Carla währt 54 Jahre, bis zu ihrem Tod. Die Ehe ist etwas Heiliges für den Katholiken Toscanini, was freilich für ihn nicht unbedingt Treue bedeutet: „Ein Mann kann sich eine Geliebte nehmen, aber er darf sein ganzes Leben lang nur eine Frau haben.“

Manche Orchestermitglieder nennen ihn „Grandpa Casanova“, der Dirigent hat zahlreiche Affären. Toscanini ist 66, als er ein heftiges Verhältnis mit der 30 Jahre jüngeren Ada Mainardi beginnt, der Frau eines berühmten Cellisten. Seine Briefe an sie lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Ich will Dich haben, ich begehre Dich – mit Haut und Haar. Ich fühle, wie meine Adern bersten. Deine Briefe treiben mich zur Raserei. Du begehrst mich, und ich kann mein Sehnen nicht länger beherrschen. Ich möchte Dich von Kopf bis Fuß abküssen, mich an jedem Winkel von Dir festsaugen.“

"Ein armer, unglücklicher Mann"

Doch das Alter trifft auch ihn. 1953 schreibt er an eine Freundin: „Ich fühle mich nicht wohl, und niemand schenkt mir Glauben, diese Dummköpfe, aber ich bin nicht mehr der, der ich einmal war. Meine Beine und mein Gedächtnis lassen nach ... Alles in allem ein armer, unglücklicher Mann.“

Am 4. April 1954 dirigiert Toscanini sein NBC-Orchester in New York bei einem reinen Wagner-Programm. Im „Bacchanale“ aus dem „Tannhäuser“ hört er plötzlich auf, mit der linken Hand bedeckt er seine Augen. Das irritierte Orchester hangelt sich weiter, bis Toscanini wieder dabei ist. Nach dem „Bacchanale“ will er das Podium verlassen, man macht ihn darauf aufmerksam, dass noch die „Meistersinger“-Ouvertüre auf dem Programm steht. Bei den letzten jubelnden Akkorden senkt Toscanini seinen Dirigentenstab und geht langsam von der Bühne. Tränenüberströmt schließt er sich in seiner Garderobe ein. Er wird nie wieder dirigieren.

Vor 60 Jahren, am 16. Januar 1957, stirbt Arturo Toscanini in seinem Haus in New York, wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag. Sein Leichnam wird nach Mailand überführt, 300.000 Menschen sind auf den Straßen, als der Leichenwagen von der Scala aus den Weg zum Cimetero Monumentale nimmt.

Am Friedhofseingang singen die Chöre der Scala, des Konservatoriums und von Radio Italiana den Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“. „Va pensiero – Flieg Gedanke“ – es ist jenes unsterbliche Stück, das Toscanini 56 Jahre zuvor am selben Ort beim Begräbnis Giuseppe Verdis dirigiert hat.

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