Im Reich der bunten Untersetzer Seit 125 Jahren gibt es Bierdeckel

Er ist allgegenwärtig, milliardenfach: der Bierdeckel. Kaum einer weiß: So ziemlich jeder Pappteller kommt aus einem Dorf im Schwarzwald. Seit 125 Jahren halten die kleinen „Filze“ Biertische trocken.

 Die ganze Welt mit 107 Millimetern Durchmesser: Bierdeckel sind Botschafter ihrer Heimat (mal auch Gottes oder der Volkspolizei).

Die ganze Welt mit 107 Millimetern Durchmesser: Bierdeckel sind Botschafter ihrer Heimat (mal auch Gottes oder der Volkspolizei).

Foto: Sabine Braun

Die Halle bebt, die Stahlträger zittern, der Betonboden vi-briert. Es duftet nach Holz. „Jetzt wird’s laut!“ warnt Marketing-Manager Simon Mühlhäuser: „Hier! Oropax! Isch bessr!“ Hinauf geht es über steile Stahltreppen. „Passen’s auf! Isch extrem hoch hier!“ In der Tiefe wälzt sich eine lärmende Hölle aus Holz in Richtung eines gewaltigen Stahlzylinders.

Eine archaisch anmutende Arbeitswelt: Baumstämme donnern gegeneinander, bäumen sich auf, bis die Entrindungstrommel sie verschlingt. Es knirscht und knackt, es bricht und knistert. Dann spuckt das rotierende Ungetüm die skalpierten Stämme aus – und die nächste Monstermaschine liegt schon auf der Lauer: Angetrieben von einer Art Panzerkette zermahlt ein riesiger Schleifstein das entrindete Holz zu einem grauen, blubbernden Brei. Simon Mühlhäuser grinst herüber. „Koi Arbeitsplatz für empfindliche Gemüter!“

So wie an diesem Morgen poltert es im Schwarzwald-Dorf Weisenbach schon seit Ewigkeiten: Beim Bierdeckel-Weltmarktführer Katz im malerischen Tal der Murg. Der „Hidden Champion“ liegt geduckt vor einer Felswand, eingekeilt zwischen Bergflüsschen und Durchgangsstraße. Fernab der Metropolen, werden drei Viertel aller Bierdeckel weltweit aus dem Holz geschält, geschleift, bedruckt und ausgestanzt. Unfassbare 1,7 Milliarden Pappen jährlich.

Ausgewählte Bierdeckel
13 Bilder

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Kaum eine Kneipe, keine Bar, kein Restaurant, in der das frisch gezapfte Pils, das Kölsch oder die kalte Limo nicht auf den badischen Filzen landet. Mit dem Außenposten in den USA komme man insgesamt sogar auf 3,5 Milliarden Untersetzer, rechnet Mühlhäuser vor. „Wir exportieren in mehr als 50 Länder.“

Sieben Langholztransporter liefern Nachschub

Weisenbach. Eine kleine Gemeinde im Nordschwarzwald. 1900 Seelen, viel Wald, viel Fachwerk, Bahnhof, Apotheke, Bäcker, mehr als zwei Dutzend Vereine: Fanfaren-Bläser und Sänger, Schützen, Modellbahner und Karnevalisten. Dazu ein Chinese und drei Gasthöfe, wo Murgtaler Heimat-Biere auf heimischen Deckeln schäumen.

Sieben Langholztransporter kurven täglich die sprudelnde Murg entlang und liefern Nachschub für die Tagesproduktion von bis zu sieben Millionen Bierdeckeln. Das Basismaterial ist zu hundert Prozent Natur pur und biologisch abbaubar. „Wir machen die Zellulose selbst!“, brüllt Mühlhäuser gegen den Lärm an. „Alles mit heimischem Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft.“ Nicht eine Fichte muss für den Deckel sterben. „Wir verwerten nur Abfallhölzer.“

Ein paar Stahltreppen weiter wird es plötzlich heiß: Männer schwitzen in Schutzwesten und überwachen einen stählernen Hightech-Hünen: die Papiermaschine, zwei Stockwerke hoch, 80 Meter lang. Rund um die Uhr verschlingt der Koloss das pürierte Holz und entzieht in vielen komplizierten Schritten der schlammigen Masse die Feuchtigkeit. Es entsteht Holzschliffpappe, der Stoff aus dem die Deckel-Träume sind. Dafür, dass sie nie zerplatzen, sorgen Jürgen Koschubat, 31, und seine Kollegen. Der Papiertechniker scherzt: „Mir zerschdöra die immer, um das Geschäfd zu beläba!“ Die Menschen im Murg-Tal, einst allesamt Holzhauer, Floßknechte und Säger, sind stolz auf ihre Deckel.

Seit Generationen leben die Einheimischen vom Wald und dem, was er ihnen schenkt. Auch die Holzschliffmanufaktur Katz. Es begann vor 300 Jahren mit der Holzflößerei und einem Sägewerk. 1716 lenkt Johann Georg Katz die ersten Stämme durch die Untiefen des Flusses. Das Holz macht den Clan reich. Nach der industriellen Revolution produzieren die Floßherren zunächst Bahnschwellen und Telegrafenmasten – und später Bierdeckel aus den Holzabfällen.

1903 kommt die bahnbrechende Idee in den Schwarzwald

Der Geistesblitz eines sächsischen Unternehmers katapultiert die Holz-Barone auf den Bierdeckel-Thron. 1892 hatte der Dresdner Papierfabrik-Direktor Robert Sputh (1843-1913) mit seinem „Faserguss-Untersetzer“ den Vorläufer des heutigen Bierdeckels entwickelt. Die Filzplatten aus Sebnitz in der Sächsischen Schweiz, patentiert am 25. Oktober desselben Jahres, waren tatsächlich noch aus Filz, besaßen aber bereits den heute noch üblichen Standarddurchmesser von 107 Millimetern.

1903 greifen die Schwarzwälder Spuths bahnbrechende Idee auf. Sie industrialisieren die Fertigung: Holzschliff und Stärke, vermengt mit Wasser aus der Murg – fertig ist das goldene Geschäft. Die Untersetzer, getrocknet, geformt, gestanzt, finden schnell reißenden Absatz. Auf der Polarfahrt des Luftschiffs „Graf Zeppelin“ erobern Katz-Bierdeckel 1931 sogar die Polarregion. „Sie sind bis heute Kulturgut“, sagt Daniel Bitton, Geschäftsführer von Katz.

Heute sorgen weltweit 270 Mitarbeiter dafür, dass überall zwischen Thule und Tokio Schwarzwälder Fichte unter die Bierkrüge kommt. „Eine eingeschworene Gemeinschaft“ sei das, versichert Marketing-Mann Mühlhäuser. Ganze Familien arbeiten hier, viele schon seit Jahrzehnten. „Fast alle Mitarbeiter kommen aus unserer Gegend.“

Nur Flüssigkeit aufzusaugen – das war die einseitige Aufgabe eines Bierdeckels früher, erklärt Mühlhäuser. „Heute ist der Bierdeckel vor allem ein Werbe-träger.“ Nicht nur bei den 1400 deutschen Braustätten, die derzeit rund 5000 Biersorten produzieren. Auch bei politischen Parteien und Fußballvereinen, bei Versicherungen und Banken, Auto- und Parfümherstellern, Radiosendern, Feuerwehren, Schützenvereinen, Filmgesellschaften und Handwerkstrieben.

Für Sammler sind die Pappplatten Kunstwerke

Die Pappplatten werben für Tabletten und Lippenstifte, für Rasierapparate und Kondome, in der früheren DDR sogar für die Volkspolizei. In den USA haben längst alle großen Mannschaften im Basketball, Eishockey und Football ihre eigenen Pappen. Helge Himstedt, Vorsitzender der „Bierdeckelsammlergruppe Nordhessen/Ostwestfalen“ schätzt, dass es weltweit „etwa 280.000 verschiedene Bierdeckel“ gibt.

Für viele Menschen sind Bierdeckel nur ein Stück Pappe unter dem Pilsglas. Die rührige (und wieder wachsende) Sammlerschar erhebt den „Fuizl“ zu kleinen Kunstwerken. Im Schnitt 1,5 Millimeter dick und bis zu zehn Gramm leicht, rollt er in den unterschiedlichsten Variationen aus dem Schwarzwälder Deckel-Imperium: Quadratische und runde, viereckige und ovale, bebilderte und beschriebene Bierteller, manche zu Herz- und Tierformen gestanzt.

Ein wahrer Schatz an schrägen Designs lagert im Archiv: Einige duften nach Parfüm, lassen sich zu Weihnachtsbäumen zusammenstecken oder animieren mit Rubbelfeldern zur Teilnahme an Gewinnspielen. Selbst in die IT-Welt wagen sich die Filze vor: Der „Augmented Reality Bierdeckel“ kann mittels Smartphone 3D-Modelle, Sounds, Grafiken und interaktive Spiele in Echtzeit herbeizaubern. Derart Ausgeflipptes stehe vor allem bei den Amerikanern hoch im Kurs, sagt Mühlhäuser. „Die Deutschen sind da eher zaghaft.“

Seine Vielseitigkeit hat den Wegwerf-Artikel bis heute unsterblich gemacht: Des Zechers treuer Pappkamerad justiert nicht nur wackelige Tische. Er schmückt auch Party-Keller, dient als Postkarte und wird schon mal als Wurfgeschoss zweckentfremdet, wenn die Diskussion an der Theke richtig hoch kocht. Manche zerfetzen ihn gerne aus Frust, andere vertreiben ihre Langeweile mit Geschicklichkeitsspielen. Sie stapeln Kartenhäuser oder spielen: Wer schafft es, den dicksten Bierdeckel-stapel mit dem Finger hochzuschnippen und in der Luft zu fangen?

244.000 Bierdeckel bilden die größte Sammlung weltweit

Kinderkram für Sven Goebel, 39. Der Kampfsportler aus Kall (Eifel) hält den Weltrekord von 260.000 gestapelten Bierdeckeln. 2003 wollte der CDU-Politiker Friedrich Merz den schnöden Deckel zu weitaus höheren Weihen küren: Angela Merkels Fraktionsvize plante, die Steuererklärung so zu vereinfachen, dass sie auf einen Bierdeckel passe. Die Pläne platzten, der Deckel hat überlebt.

Auch für Kampagnen hält der Teller seine Pappe hin: Mit dem Slogan „Kein Bier für Rassisten!“ wendet sich die Fan-Abteilung von Bundesligist Borussia Dortmund gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. 120 000 Bierdeckel der sächsischen Landesregierung protestieren gegen Vorurteile gegenüber Migranten. Sogar die Heilige Schrift wird bemüht: Eine „Bibel auf Bierdeckeln“ verschickt die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau an ihre 1,6 Millionen Mitglieder. Ein Versuch, die „Grundlagen des Lebens neu ins Blickfeld“ zu rücken und die 30 442 Verse der Bibel in drei Sätzen zu deckeln: „Liebe Gott! Liebe Dich selbst! Liebe die Anderen!“

Es geht auch schräger: Freiwillige Feuerwehren feiern ihre Jubiläen schon mal mit dem Slogan „Wir löschen alles!“ Nicht selten landen auch solche Botschaften auf den Biertischen: Sprüche wie „Hopfen und Malz erleichtern die Balz!“, „Heute liege ich unten!“ oder „You’ll never torkel alone!“ sind noch die harmloseren Versuche, schlichte Kneipen-Hocker zu amüsieren. Einen Hort an aparten Designs hat Volker Petri (71) gesammelt, Präsident der „Fördergemeinschaft von Brauerei-Werbemitteln-Sammler e.V.“ in Kleinwallstadt am Main.

244.000 Bierdeckel aus 190 Ländern, die wahrscheinlich größte Sammlung weltweit. Regelmäßig organisieren Deutschlands Deckelfürst und seine Sammler-Kollegen Tauschbörsen, zu denen oft mehr als 2000 Kenner aus ganz Europa anreisen. Viele der Papp-Jäger sind in Klubs organisiert und präsentieren stolz ihre Schätze im Internet. Reich hat der Sammler-Trieb Petri nicht gemacht: Auf zwischen 500 bis 800 Euro würden es einige Raritäten schon bringen. Aber: „Hobby bleibt Hobby.“ Und ein Ende der Jagd ist nicht in Sicht: „Da schlummern noch viele Schätze!“

Im Schwarzwald entsteht derweil ein Prachtexemplar der besonderen Art: „Der größte Bierdeckel der Welt!“ verrät Katz-Mitarbeiter Mühlhäuser. Ein Gigant von 20 mal 20 Metern aus haus-eigener Holzschliff-Pappe. Der Deckel-Champion will endlich ins Guinness-Buch der Rekorde. Na, dann Prost!

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