Interview mit dem früheren Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier: "Demokratie braucht eine vitale Opposition"

Bonn · Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hält die Pläne für eine weitere europäische Integration der Finanzpolitik für verfassungsrechtlich bedenklich. Die Praxis in der Asylpolitik könnte die Rechtsstaatlichkeit beschädigen.

 Berlin, Anfang Februar 2018: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt bei der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag bei einer namentlichen Abstimmung ihre Stimmkarte ab. Neben ihr Beatrix von Storch (rechts), Abgeordnete der AfD, und der Unions-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder (links).

Berlin, Anfang Februar 2018: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt bei der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag bei einer namentlichen Abstimmung ihre Stimmkarte ab. Neben ihr Beatrix von Storch (rechts), Abgeordnete der AfD, und der Unions-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder (links).

Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/

Die verfassungsgemäße Ordnung steht in Deutschland auf einem breiten, stabilen Konsens. Dennoch scheint die Demokratie zunehmend ein Akzeptanzproblem zu haben. Stimmt der Eindruck?

Hans-Jürgen Papier: Im Grundsatz sind unsere repräsentative Demokratie und unser Rechtsstaat sehr stabil. Daran ändert auch der wiederkehrende Ruf nach mehr direkter Demokratie nichts. Man muss jedoch darauf achten, dass man gewisse Fehlentwicklungen rechtzeitig wahrnimmt und gegebenenfalls gegensteuert.

Stichwort Fehlentwicklungen: Sie haben große Aufmerksamkeit erfahren, als sie in der Flüchtlingskrise von „eklatantem Politikversagen“ und einer „tiefen Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit“ sprachen. War das auf die Situation bezogen oder als grundsätzliche Systemkritik gemeint?

Papier: Es war bezogen auf die Flüchtlings-, Asyl- und Migrationspolitik, deren Fehler sich bereits vorher abzeichneten. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik krankt seit Langem daran, dass man es versäumt hat, zwischen dem individuellen Schutz vor Verfolgung einerseits und einer Steuerung von Migration und Zuwanderung andererseits zu unterscheiden. Aber meine Kritik betraf in erster Linie den Aspekt der Rechtsstaatlichkeit. Konkret ging es um die Frage: Inwieweit ist die Politik willens und in der Lage, die Anwendung geltenden Rechts durchzusetzen – gegebenenfalls auch gegen eine emotionale Grund-stimmung im Land?

Damit sprechen Sie Artikel 16 a des Grundgesetzes an ...

Papier: Zum Beispiel Artikel 16 a, der ja klar sagt, dass sich auf das Asylrecht nicht berufen kann, wer aus einem sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland einreist. Bekanntlich ist Deutschland seit vielen Jahren nur von sicheren Drittstaaten umgeben. Ein individuelles Menschenrecht auf Einwanderung und Aufenthalt in einem Staat der eigenen Wahl gibt es nicht. Das Handeln der Politik erweckte aber nach außen den Eindruck, als sei man aus rechtlichen Gründen und möglicherweise auch wegen moralischer Zwänge verpflichtet, jedermann unabhängig von Identität, Herkunft und Plausibilität eines Fluchtgrundes die Einreise zu gewähren. Ich kann nachvollziehen, dass dies von vielen Bürgern als Erosion des Rechtsstaates und sinnwidrige Handhabung des Asylrechts verstanden wurde.

Somit sehen Sie die Problematik nicht in einer lückenhaften Rechtslage, sondern vielmehr in der Umsetzung durch die Politik?

Papier: So ist es, sofern wir über das Verfassungsrecht sprechen. Im „ein-fachen Recht“, auch in dem der EU, sollte man abseits aktueller politischer Drucksituationen pragmatische Änderungen, Präzisierungen und Klarstellungen vornehmen, um den Problemen bei der Umsetzung des Asylrechts und der Zuwanderung künftig besser Herr zu werden. Auf entsprechende Vorschläge hat die Politik bislang aber weitgehend mit Desinteresse reagiert.

Das Oberlandesgericht Koblenz hat vor einiger Zeit ein Urteil in einer Familienrechtssache mit den Worten begründet, die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik sei in diesem Bereich seit eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt. Welche Folgen hat ein solcher Richterspruch für das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz?

Papier: Ohne näher auf den konkreten Fall einzugehen, darf ich sagen, dass diese Aussage auch in meinen Ohren sehr drastisch klingt. Andererseits drückt sie das aus, was viele Bürger derzeit empfinden. Ich warne allerdings auch davor, allzu pauschal ein Urteil über unseren Rechtsstaat zu fällen. Im europa- und weltweiten Vergleich hat die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland noch immer eine herausragende Stellung. Meine Aufgabe als Staatsrechtslehrer ist es aber auch, auf Symptome von Erosionserscheinungen rechtzeitig hinzuweisen. Und die Politik muss sich sowohl über die Wahrnehmung und Einschätzung der Bürger bewusst sein als auch entsprechende warnende Hinweise zuständiger Behörden zur Kenntnis nehmen.

In Bonn blieb die Tötung des 17-jährigen Niklas P. in Bad Godesberg ungesühnt. Und nach den Silvesterübergriffen von Köln zur Jahreswende 2015/16 gab es weit mehr als 1000 Strafverfahren, bislang aber nur drei Dutzend Verurteilungen. Sind das Beiträge zum Ansehensverlust der Justiz?

Papier: In den zuletzt genannten Fällen sehe ich die geringe Aufklärungsquote in erster Linie den widrigen objektiven Gegebenheiten geschuldet, bei denen es schwer wird, mit sicheren Beweisen bestimmten Tätern konkrete Taten nachzuweisen. Den reflexhaften Ruf nach immer neuen Gesetzen halte ich im Allgemeinen für falsch. Vertrauen verliert der Staat aber beispielsweise wegen der hohen Zahl nicht aufgeklärter und nicht geahndeter Wohnungseinbrüche. Hier sprechen Fachleute ausdrücklich von Staatsversagen. Ähnliches kann mit Blick auf das zahlenmäßige Verhältnis zwischen ausreisepflichtigen Personen und tatsächlichen Abschiebungen konstatiert werden, die oftmals nicht nur aus rechtlichen, sondern vor allem aus tatsächlichen Gründen scheitern.

Damit sprechen Sie indirekt die hohe Überlastung der Justiz, gerade der Verwaltungsgerichtsbarkeit an. Auch Lehrer und Polizisten fehlen. Hat sich der öffentliche Dienst inzwischen kaputt-gespart?

Papier: Inwieweit die Einsparungen der vergangenen Jahrzehnte angezeigt und vertretbar waren, will ich nicht beurteilen. Die neuen Herausforderungen führen dazu, dass die Justiz in weiten Teilen personell unterbesetzt ist und auch hinsichtlich der Sachausstattung den modernen Anforderungen nicht immer gerecht wird. Lücken, die über lange Zeit aufgerissen wurden, können Sie nicht im Schnellverfahren schließen. Auf bestimmten Feldern droht die Justiz, salopp gesagt, abzusaufen.

Passend zur hohen richterlichen Belastung gibt es seit Jahresbeginn ein neues Gesetz. Würde das Netzwerkdurchsetzungsgesetz einer verfassungsrecht-lichen Prüfung standhalten?

Papier: Ich möchte da keine Prognose abgeben, weil es als Ratschlag an die Richter aufgefasst werden könnte. Meine persönliche Einschätzung ist, dass hier durchaus verfassungsrechtliche Probleme bestehen. Sicher kann man den Betreibern elektronischer sozialer Medien auftragen, die Verbreitung strafbarer Inhalte zu verhindern. Insofern ist das Ziel legitim. Problematisch ist die Umsetzung in den zahlreichen Grenzfällen, weil sich private Unternehmen angesichts der Androhung extrem hoher Geldbußen dazu veranlasst sehen könnten, vorsorglich auch Beiträge zu löschen, die gar nicht rechtswidrig sind. Damit griffen Private in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ein, das für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend ist. Das Bundesverfassungsgericht hat stets sehr strenge Anforderungen aufgestellt, wenn es darum ging, eine Meinungsäußerung als strafbar oder auch nur als rechtswidrig anzusehen. Wenn die Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsschutz Betroffener von den staatlichen Gerichten auf private Unternehmen – womöglich mit Sitz im Ausland – verlagert wird, sehe ich das kritisch.

In der Kritik steht nicht nur das Gesetz, sondern auch die Art und Weise, wie es zustande gekommen ist. Der Vorwurf lautet, dass die wichtigen Entscheidungen im Hauruckverfahren durchgepeitscht werden. Hat die Ära Merkel das Institutionengefüge verändert?

Papier: Richtig ist, dass die Politik in den vergangenen Jahren sehr exekutivlastig geworden ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in vielen seiner Entscheidungen das Parlament als das wichtigste und zentrale Verfassungsorgan heraus-gestellt. Nur der Deutsche Bundestag verfügt auf der Bundesebene über eine unmittelbare Legitimation durch das Volk. Entsprechend hat beispielsweise bei grundlegenden europapolitischen Entscheidungen das nationale Parlament ein Mitentscheidungsrecht.

Wird die erfolgte Erweiterung des Spek-trums im Bundestag auf sieben Parteien die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung wieder stärken?

Papier: Demokratische Ordnungen benötigen nach meiner Überzeugung einen funktionsfähigen, stabilen Parlamentarismus. Dazu gehören eine starke Rolle des Parlaments und eine vitale Opposition. Fehlen diese, droht der Parlamentarismus einzuschlafen. Das entspricht nicht den Vorstellungen eines parlamentarischen Regierungssystems. Große – wirklich große – Koalitionen sind auf Dauer deshalb für ein parlamentarisches System nicht gerade förderlich.

Die Vertreter der möglichen Großen Koalition haben vereinbart, dass der Euro-Rettungsschirm ESM zu einem europäischen Währungsfonds weiterentwickelt werden soll, kontrolliert vom EU-Parlament. Wie ist das mit dem nationalen Parlamentsvorbehalt vereinbar?

Papier: Das wird vermutlich verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen. Das Bundesverfassungsgericht hat klar ausgesprochen, dass jede Übernahme von Haftungsrisiken erheblicher Art für Deutschland nur mit Zustimmung des Bundestages erfolgen kann. Überhaupt folgen aus dem Grundgesetz Grenzen der Integration.

War der Bruch nahezu sämtlicher Regeln des Vertrags von Maastricht ein Mene-tekel für die Krise der Währungsunion?

Papier: Ja. Auch das ist ein Fall von Nichtdurchsetzung geltenden Rechts, in diesem Fall auf europäischer Ebene. Indem man die Stabilitätskriterien nicht von Anfang an hinreichend ernst genommen hat, hat man zur Entstehung der Krise beigetragen.

Hat denn das Bundesverfassungsgericht da in der gebotenen Weise Stärke gezeigt? Zumindest in der breiten öffentlichen Wahrnehmung ist es der Politik in den vergangenen Jahren nicht sonderlich signifikant in die Parade gefahren.

Papier: Es mag sein, dass mancher andere juristische Konsequenzen erwartet hat. Aber das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen zwingende Integrationsschranken her-ausgearbeitet oder aufgezeigt. EU-Verträge sind beispielsweise nur mit gewissen Maßgaben und einschränkenden Auslegungen verfassungsrechtlich gebilligt worden. Auch haben die Karls-ruher Richter festgestellt, dass es auf der Basis des Grundgesetzes keine schrankenlose Abgabe von Hoheitsrechten geben kann. Die Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa, das muss ich ganz klar sagen, sind auf der Basis des Grundgesetzes nicht realisierbar. Dafür müsste sich Deutschland erst eine neue Verfassung geben.

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