"Elle" neu im Kino Eiskalter Engel auf Oscar-Kurs

Bonn · Isabelle Huppert als Vergewaltigungsopfer in Paul Verhoevens ergreifendem Filmdrama „Elle“. Huppert sorgt dafür, dass wir ihren quecksilbrigen Charakterkern nie zu fassen bekommen.

 Die kaltblütige Ruhe des Opfers: Isabelle Huppert glänzt in „Elle“.

Die kaltblütige Ruhe des Opfers: Isabelle Huppert glänzt in „Elle“.

Foto: epd

Bloß kein Kontrollverlust. Ein milder Tadel an die schwarze Katze, die der Tat stoisch zusah, doch ansonsten hakt Michèle (Isabelle Huppert) ihre Vergewaltigung wie einen Haushaltsunfall ab. Arzt ja, Polizei nein, und ihren Vertrauten erzählt sie alles ganz beiläufig im Pariser Restaurant. Trotzdem bon appétit.

Hier liegt die erste Ungeheuerlichkeit in Paul Verhoevens Film „Elle“, der das Verbrechen zuvor drastisch zeigte: splitterndes Glas, zerrissene Wäsche, ein brutaler Kampf im Schnitt-Stakkato, das selbst schon wie ein visuelles Attentat wirkt. Und dann diese kaltblütige Ruhe des Opfers – verstörend.

Normalerwiese biegen Regisseure nach einem solchen Auftakt in eine von zwei dramaturgischen Hauptstraßen ein: Entweder zeigen sie die zunehmende Psychokrise des traumatisierten Opfers oder schicken es in einen stufenweise eskalierenden Rachethriller. Stattdessen lockt uns Paul Verhoeven in ein Gassenlabyrinth, in dem die Irrlichter tanzen.

Der 78-jährige Niederländer bricht schon seit mehr als 30 Jahren Hollywoodkonventionen mit grimmigen Science-Fiction-Satiren wie „RoboCop“ oder sinnlich-abgründigen Krimis wie „Basic Instinct“. Doch so radikal wie in seinem ersten französischsprachigen Film hat er Publikumserwartungen noch nie unterlaufen. Dafür sorgt schon Drehbuchautor David Birke, der Philippe Djians Roman „Oh...“ scharfsinnig zuspitzte, vor allem aber Hauptdarstellerin Isabelle Huppert.

Fast permanent im Bild, macht sie Michèle zum wandelnden Widerspruch. In ihrer Videospielfirma lässt die knallharte Geschäftsfrau die Männer über Stöckchen springen, gönnt sich eine heimliche Affäre mit dem Mann (Christian Berkel) ihrer besten Freundin und liebäugelt unverhohlen mit dem neuen, frisch verheirateten Nachbarn (Laurent Lafitte). Ein bourgeoises Biest, sarkastisch, schnippisch. Doch da gibt es dieses Zeitungsfoto von ihr als kleines Mädchen. Halbnackt und verstört steht es im Garten ihres Vaters, der gerade die halbe Nachbarschaft massakriert hat. Michèle, ein Opfer, was sie als Frau offenbar nie mehr sein will.

Aber ist es wirklich so einfach? Michèle kann Zicke und Kätzchen, Domina und Unterwürfige sein, und Isabelle Huppert sorgt dafür, dass wir ihren quecksilbrigen Charakterkern nie zu fassen bekommen. Das Innere offenbart sich allein an der Oberfläche, und die reflektiert letztlich vor allem unsere Begierden und Ängste. Nur scheinbar biegt der Film kurz in bekannte Genre-Spuren ein. Die Vergewaltigte bewaffnet sich, fahndet nach dem Täter, träumt seine Ermordung. Doch als sie ihn enttarnt, dreht sie die sadomasochistische Spirale bis in lebensgefährliche Grenzbereiche weiter. Eine Getriebene als treibende Kraft.

Nein, politisch korrekt kann ein Film kaum sein, der die Grenze zwischen Lust- und Schmerzensschrei verwischt. Auch Entsetzen und Komik trennen bei Verhoeven nur Millimeter. Eigentlich lebt Michèle ja in einer grotesken Welt zwischen dem monströsen Vater, der alterslüsternen Mutter sowie ihrem schluffigen Exmann und dem schwachen Sohn. Ein Kolportagemilieu, in dem aber jederzeit alles möglich scheint. So ist dies einer der raren Thriller, die ihre Spannung nicht banger Erwartung, sondern purer Ungewissheit verdanken. „Elle“ zieht uns in voyeuristischem Unbehagen einem halbwegs erwarteten und dann doch verblüffenden Ende entgegen. Und schickt Isabelle Huppert als eiskalten Engel auf Oscar-Kurs.

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