Nachruf auf Chuck Berry „Er hat unsere Jugend erleuchtet“

Musiker, Kollegen und Fans trauern um die Legende des Rock 'n' Roll, Chuck Berry. "Chuck, du warst großartig, und deine Musik ist für immer in uns eingraviert“, meinte Mick Jagger.

 Markenzeichen Kapitänsmütze: Chuck Berry 2013 bei einem Konzert in Montevideo, Uruguay.

Markenzeichen Kapitänsmütze: Chuck Berry 2013 bei einem Konzert in Montevideo, Uruguay.

Foto: AFP

Das digitale Kondolenzbuch, das der „St. Louis Dis-patch“ in Missouri am frühen Samstagabend auf seiner Internetseite installierte, füllte sich im Minutentakt. Viele Zeitungsleser, die sich dort vor Chuck Berry verbeugen wollten, empfanden so wie Nancy Kusak aus Pittsburgh: „Seine Musik brachte mir wie Millionen anderen Freude. Ich danke dem lieben Gott für ihn und seine unglaubliche Gabe.“ Schlichter und schöner kann man es schwer formulieren. Mit Charles Edward Anderson Berry Sr. ist der letzte Urgroßvater des Rock abgetreten. Am Samstagmittag wurden Rettungssanitäter in sein Anwesen nahe Wentzville gerufen, ein Vorort seiner Heimatstadt St. Louis. Sie konnten den leblosen Mann nicht mehr zurückholen. Die Todesursache ist noch unklar. Chuck Berry wurde 90 Jahre alt. Ein charismatischer Pionier, dessen Wirkungsmacht schon zu Lebzeiten Größen wie den Beatles, den Rolling Stones (hier gesondert: Keith Richards), Bob Dylan, Eric Clapton und Jimi Hendrix Ehrfurcht einflößte und tiefe Verehrung abrang.

„Wenn man versuchen würde, dem Rock ’n’ Roll einen anderen Namen zu geben“, sagte einmal John Lennon, „man könnte ihn Chuck Berry nennen“. Auch darum zogen gestern Titanen von Bruce Springsteen bis Mick Jagger ergriffen den Hut. „Er hat unsere Jugend erleuchtet, und Leben in unseren Traum gehaucht, Musiker und Künstler zu werden“, schrieb der Ober-„Stones“, „seine Texte überstrahlten die von anderen und warfen ein eigenes Licht auf den ‚amerikanischen Traum‘. Chuck, du warst großartig, und deine Musik ist für immer in uns eingraviert.“

Ob „Maybellene“, „Sweet Little Sixteen,” „Rock and Roll Music”, „Carol“, „Nadine“, „My Ding-a-Ling“ oder „Johnny B. Goode”. Wer im großen amerikanischen Songbook nach dem Heiligsten stöbert, stößt in der Tat immer wieder auf seine poetisch-genialischen Zweieinhalb-Minuten-Epen. So genialisch, dass Leonard Cohen 2012 bei einer Preisverleihung des britischen Schriftstellerverbandes sagte, im Vergleich zum Songschmied Berry habe alles andere nur „Fußnotenqualität“. Bob Dylan sprach gar vom „Shakespeare des Rock ’n’ Roll.“

Die fetzigen „Sonette“ fielen dem am 18. Oktober 1926 als Sohn eines Laien-Predigers und einer Lehrerin in geordneten Verhältnissen geborenen Schwarzen so regelmäßig ein, dass man ihn schon vor 40 Jahren für unsterblich erklärte. Die Nasa schickte 1977 die Sonde Voyager ins Weltall. Um im Falle einer Begegnung mit Außerirdischen den grünen Planeten schnell erklären zu können, ist auf einer goldenen CD auch stilbildendes Liedgut gespeichert. Die Sparte Populärmusik ist durch Berry vertreten. Einem Mann, der noch bis zu seinem 88. Geburtstag mit weißer Kapitänsmütze, rotem Pailettenhemd und Entenwatschelgang, die Gibson ES 335-Gitarre stets eng am Körper, die Bühnen der Welt unsicher und ein Mehrgenerationenpublikum selig machte.

Dass der bis zuletzt gertenschlanke Ehe- und Lebemann (er war fast 70 Jahre mit „Toddy“ verheiratet, Themetta Berry, und hatte diverse Affären) federführend am Soundtrack des 20. Jahrhunderts mitschreiben würde, dass er kühn mit dem ikonenhaften „Mach Platz Beethoven, und erzähl Tschaikowsky die Neuigkeiten!“ den Machtanspruch der U- gegenüber der E-Musik formulieren sollte, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Berry war bereits 30 und Ex-Gelegenheitsarbeiter, Ex-Boxer und Ex-Friseur, als er 1955 seine erste Platte aufnahm: „Maybellene“. Die nach Wimperntusche benannte Ode an dicke Autos und eine fremdgehende Frau katapultierte den Mann mit der Stimme, „die genauso wellig und ölig war wie sein Haar“ (Nik Cohn), ins Orbit des damals gerade entstehenden Planeten Pop.

Chuck Berrys Prinzip: Die Gage immer im Voraus

Lange bevor Alice Cooper in den 70er Jahren mit „School's out“ die Qualen der Teenager-Generation besang, sicherte sich Berry mit Sturm-und-Drang-Liedern wie „School Day“ in den Jukeboxen der nach Rebellion dürstenden Nachkriegsjugend sichere Abspielplätze. Als seine Kunst, die tief im Blues von Granden wie T-Bone-Walker und Muddy Waters verankert war, noch „Negermusik“ gerufen wurde, kultivierte Berry ein Geschäftsprinzip, das ihn bei seinen Konzerten bis zuletzt begleiten sollte: Gage immer in bar – als Vorauszahlung. Die Marotte wurzelte in tiefer Skepsis gegenüber den Agenten der Plattenindustrie und Kapriolen, die das Leben schrieb. Dreimal landete Berry hinter Gittern. Mal ging es um Steuerhinterziehung (120 Tage). Mal um die mutmaßlich triebgesteuerte Mitnahme einer 14-Jährigen im Auto in einen anderen Bundesstaat (20 Monate).

Weil ihm die Stimme abhandengekommen war und die Gliedmaßen auch nicht mehr wollten, hängte er die Live-Gitarre vor zwei Jahren endgültig an den Nagel. Um dann im vergangenen Okober pünktlich zum 90. Geburtstag die Sensation anzukündigen: „Chuck“, das erste Album seit fast 40 Jahren mit neuen Songs, so sagte sein Sprecher Joe Edwards damals dieser Zeitung, „ist in der Mache“.

Berry kann die im Laufe dieses Jahres geplante Taufe seines Spätwerks nur noch von höherer Warte aus mitverfolgen. Sohn Charles Jr. und Tochter Ingrid, beide Mitglieder in der Begleitband ihres Vaters gewesen, sollen das Irdische übernehmen. Wenn sich ihre Trauer gelegt hat, wird ihnen Stephen King vielleicht etwas Mut machen: „Das bricht mein Herz“, schrieb der Horror-Autor aus Maine nach dem Eintreffen der Todesnachricht, „aber 90 Jahre ist nicht schlecht für Rock 'n' Roll. Johnny B. Goode für immer.“

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