Kommentar Der Rechtsruck in Frankreich - Frust National

Was hat Marine Le Pen, das den anderen Politikern in Frankreich fehlt - und was können sie ihr noch entgegensetzen? Obwohl der Triumph ihres ultrarechten Front National vorhersehbar war, herrschen Bestürzung und Ratlosigkeit.

Die rechtsbürgerliche UMP auf den zweiten Platz verwiesen, die regierenden Sozialisten historisch abgestraft, alle anderen Parteien nur im enttäuschenden einstelligen Bereich - dieses Votum kennt nur eine Siegerin: Le Pen.

Das Ergebnis lässt sich nicht allein als Ausdruck von EU-Skepsis interpretieren. Diese ist in Frankreich zwar verbreitet. Doch Le Pen siegte nicht aufgrund ihrer EU- und Euro-Kritik. Selbst in ihrer Wählerschaft sind ihre Forderungen nach einem Ausstieg Frankreichs aus der Gemeinschaftswährung und dem Schengen-Raum umstritten.

Vielmehr verdankt sie ihren Triumph dem unendlichen Frust der Wähler über die Regierung: Präsident François Hollande wollten sie bewusst eine Ohrfeige verpassen. Seine Politik lässt nicht nur keine Vision erkennen, vor allem fehlt es ihr an Resultaten: Er wollte die Arbeitslosigkeit verringern, die Wirtschaft aufrichten, Reformen angehen - Versprechen gebrochen.

Von den jungen Leuten, die er zu seiner Priorität erklärt hat, wählte fast jeder Dritte Front National. Die UMP, die in Skandale und internes Führungsgerangel verstrickt ist, und die anderen Parteien bieten keine überzeugenden Alternativen. Frankreich befindet sich in der Sackgasse, die Menschen fühlen sich nicht mehr von ihren Eliten vertreten.

Marine Le Pen verspricht, Tabula rasa zu machen und dem "Volk", zu dessen alleiniger Vertreterin sie sich erhebt, die Souveränität zurückzugeben. Sie befindet sich in der bequemen Lage, pauschal "das System" kritisieren zu können, ohne glaubwürdige Gegenentwürfe aufzeigen zu müssen.

Doch anders als ihr Vater Jean-Marie Le Pen will die Rechtspopulistin an die Macht. Bei den Kommunalwahlen im März gelang ihrer Partei die lokale Verankerung mit mehr als 1000 Gemeinderäten und einem knappen Dutzend Bürgermeistern. Sie sollen beweisen, dass der Front National regierungsfähig ist.

Der jetzige Erfolg bei den Europawahlen, der ihm bis zu 25 EU-Parlamentarier beschert, ist eine weitere Etappe bis zur Präsidentschaftswahl 2017. Dann will Marine Le Pen wie ihr Vater 2002 die Endrunde erreichen. Unwahrscheinlich erscheint das nicht.

Die Reaktion wäre heute eine andere. Während der Erfolg von Le Pen senior 2002 einen Aufschrei provozierte und eine breite "republikanische Front" hinter Jacques Chirac vereinte, wirkt die Bestürzung längst gewohnheitsmäßig. Marine Le Pen hat ihre Partei etabliert, ihr ist deren "Banalisierung" gelungen durch einen modernen Anstrich und eine weichgespülte Rhetorik, so fremdenfeindlich und rückwärtsgerichtet sie bleibt.

Ihre Forderung nach Wirtschaftsprotektionismus befürworten viele, das Eintreten für die "kleinen Leute" kommt an. Le Pen verkörpert Frust, aber auch Sehnsucht nach Wandel. Ihre Stärke erklärt sich aus der Schwäche der anderen. Wann sich das ändert, scheint nicht absehbar.

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