Kommentar Der Nato-Gipfel in Wales - Nur noch ein Schritt

Ein Schritt Russlands nach Estland, Lettland oder Litauen könnte genügen. Ein einziger "verirrter" Trupp russischer Fallschirmjäger wenige Kilometer hinter der Grenze zu einem der baltischen Staaten, wie es angeblich desorientierten Spezialkräften in der Ukraine passiert ist, und der Fall, den zumindest in der Nato keiner will, wäre da: der Bündnisfall nach Artikel fünf des Nordatlantikvertrages.

Was das zeigt? Die Lage an der Ostgrenze des Nato-Gebietes ist in Folge der ungelösten Ukraine-Krise explosiv, eine Eskalation des Konfliktes jederzeit möglich, gerade bei einem professionellen Provokateur wie Wladimir Putin. Aus gutem Grund hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in den vergangenen Monaten rund drei Dutzend Telefonate mit dem russischen Präsidenten geführt.

Der Draht und damit auch der privilegierte Zugang zu Putin darf nicht abreißen. Solange geredet wird, kann auch die Spirale der Gewalt verlangsamt, im besten Falle sogar angehalten werden. Ebenfalls nicht ohne Grund nennt die Nato ihr Gipfeltreffen im walisischen Newport das wichtigste seit Jahren.

Zwischen dem Nordatlantischen Bündnis und Russland steht in der Folge des Landraubs Russlands nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und der Besetzung von Teilen der Ostukraine, die Moskau zynisch "Neu-Russland" nennt, die Gründungsakte des Nato-Russland-Rates von 1997 zur Debatte.

Darin versichern sich beide Seiten, "einander nicht als Gegner zu betrachten" und auf die "zusätzliche permanente Stationierung zusätzlicher Kampftruppen" zu verzichten.

Doch gerade die baltischen Staaten oder auch Polen sehen Zeichen und Zeit gekommen, die Gründungsakte des Nato-Russland-Rates zumindest in Frage zu stellen. Estland will die russische Militärintervention in der Ukraine nicht folgenlos hinnehmen, schließlich habe sich die "Sicherheitsumgebung" verändert.

US-Präsident Barack Obama hat bei seinem Besuch im Baltikum vor Beginn des Nato-Gipfels große Worte gewählt, um die Partner an der Grenze zu Russland zu beruhigen: "unzerbrechlich, felsenfest und ewig" sei der Beistandspakt der Allianz. Obama und die Nato müssen sich daran messen lassen - oder sie könnten den Laden gleich auflösen. Dazu wird es hoffentlich nicht kommen.

Vor allem Merkel will an der Gründungsakte des Nato-Russland-Rates nicht rütteln lassen. Die Bundeskanzlerin ahnt, dass dies gerade vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise eine neue Eiszeit heraufbeschwören würde. Russland die Partnerschaft zu kündigen, hieße, Putin einen Grund an die Hand zu geben, seine territorialen Aggressionen voll auszuleben. Eine russische Provokation an der Ostgrenze der Nato würde das Fass vollends überlaufen lassen.

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