Bonner Jurist im Interview Stefan Talmon: "Das Völkerrecht schaut nicht auf die Verfassung"

BONN · Das Völkerrecht verbietet nicht die Abspaltung von Teilen eines Staatsgebietes, sagt der Bonner Völkerrechtler Stefan Talmon. Mit ihm sprach Lutz Warkalla.

 "Das Völkerrecht schaut nicht auf die Verfassung", sagt Stefan Talmon.

"Das Völkerrecht schaut nicht auf die Verfassung", sagt Stefan Talmon.

Herr Talmon, am Wochenende soll das Referendum über den Anschluss der Ukraine an Russland stattfinden. Welche völkerrechtliche Bedeutung hat das?
Stefan Talmon: Das Referendum selbst hat völkerrechtlich noch keine Relevanz. Es kommt darauf an, was daraus folgt. Wenn danach der Anschluss erklärt wird, wäre das völkerrechtlich nichtig, denn ein Anschluss oder die Unabhängigkeit kann nicht erklärt werden für ein Gebiet, das unter militärischer Besatzung steht.

Könnte die Krim ihre Unabhängigkeit beschließen, wenn es keine militärische Besetzung gäbe?
Talmon: Beschließen kann sie alles, die Frage ist, ob sie es durchsetzen kann. Das Völkerrecht verbietet nicht die Abspaltung von Gebietsteilen, es stellt auf die faktische Lage ab. Wenn sich ein Gebietsteil für unabhängig erklärt und er kann sich durchsetzen, militärisch etwa, dann nimmt das Völkerrecht diesen neuen Tatbestand zur Kenntnis. Voraussetzung ist, dass keine Einmischung von außen erfolgt ist.

Wie ist das Verhalten Russlands auf der Krim zu bewerten?
Talmon: Das ist eine militärische Besetzung, die völkerrechtlich als Verstoß gegen das Gewaltverbot und sogar als Aggression zu bewerten ist.

Putin erklärt als Rechtfertigung unter anderem, die Regierung der Ukraine sei illegal.
Talmon: Das ist richtig. Aber auch hier muss man zwischen der staatsrechtlichen und der völkerrechtlichen Ebene unterscheiden. Staatsrechtlich mag die Regierung in Kiew rechtswidrig sein, völkerrechtlich ist das aber ohne Bedeutung. Das Völkerrecht schaut nicht auf die Verfassung, sondern darauf, welche Regierung sich letztlich durchgesetzt hat. Es gibt die Möglichkeit, dass eine Regierung, die in einem Staatsstreich gestürzt wird und ins Ausland flüchtet, die legale Regierung in den Augen des Völkerrechts bleibt - aber nur dann, wenn die Putschregierung durch eine Intervention von außen installiert wurde. Es gibt aber in der Ukraine keine Anzeichen dafür, dass irgendwelche Mächte die derzeitige Regierung an die Macht gebracht hätten. Deshalb ist diese Regierung für das Völkerrecht die neue Regierung der Ukraine. Deshalb kann Janukowitsch als ehemaliger Präsident keine Regierungshandlungen mehr ausüben. Er kann also weder Anweisungen an die Streitkräfte geben noch könnte er Russland zur militärischen Intervention einladen.

Der Westen hat sich - etwa auf dem Balkan beim Zerfall Jugoslawiens oder im Kosovo - auch eingemischt. Ist das vergleichbar?
Talmon: Ja und nein. Richtig ist: Der Westen hat sich damals eingemischt und dadurch auch Völkerrecht verletzt. Auch die Intervention der Nato im Kosovo 1999 war völkerrechtlich nicht gedeckt. Von daher könnte man sagen, auch das Kosovo ist durch eine völkerrechtswidrige Handlung entstanden. Der große Unterschied zwischen dem Kosovo und der Krim ist, dass die Nato im Kosovo erst eingegriffen hat, als es dort zu schweren Menschenrechtsverletzungen kam, zu Übergriffen gegen die albanisch-stämmige Bevölkerung in diesem Teil Serbiens durch die serbische Regierung. So etwas haben wir auf der Krim bis heute nicht gesehen. Zum anderen liegen zwischen dem rechtswidrigen Eingreifen der Nato und der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo fast neun Jahre, in denen das Kosovo unter der Verwaltung der UN stand. Auf der Krim dagegen sehen wir einen Prozess, der innerhalb weniger Tage abläuft zu einer Zeit, da die Krim unter militärischer Besetzung Russlands steht.

Wie kann es aus völkerrechtlicher Perspektive nach dem Referendum weitergehen?
Talmon: Es werden Fakten geschaffen. Das russische Parlament will offenbar schon am 21. März über den Anschluss beraten, vielleicht sogar beschließen. Danach wäre der Anschluss erfolgt. Das ändert nichts daran, dass der Anschluss völkerrechtswidrig wäre.

Aber das Völkerrecht ist machtlos...
Talmon: Jedes Recht ist machtlos. Es kommt immer darauf an, wie das Recht durchgesetzt wird. Auch bei uns halten sich die Menschen nicht immer an das Recht, siehe Uli Hoeneß und die Steuerhinterziehung. Aber hier gibt es Institutionen, die das Recht durchsetzen können. Das gibt es auf internationaler Ebene nur begrenzt. Wenn überhaupt, könnte der UN-Sicherheitsrat tätig werden. Das ist aber unwahrscheinlich, weil Russland dort ein Vetorecht hat.

Welche Rolle spielt das Völkerrecht dann noch im Fall Krim?
Talmon: Es dokumentiert die Rechtsposition nach außen und bewahrt mehr oder weniger das Recht. Das mag wenig erscheinen, ist aber doch sehr wichtig. Nehmen Sie die baltischen Staaten: Sie wurden 1940 von der Sowjetunion annektiert. Der Westen hat dies nie anerkannt und immer die Fiktion der Unabhängigkeit der baltischen Staaten aufrechterhalten, bis diese 1990 wieder entstanden sind. Der Westen ging deshalb damals auch nicht davon aus, dass es sich um neue Staaten handelt, sondern nur um neue handlungsfähige Regierungen in diesen Staaten.

Zur Person

Professor Stefan Talmon ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Bonn. Vor seiner Berufung an den Rhein 2011 lehrte er acht Jahre in Oxford. Talmon ist 49 Jahre alt und besitzt sowohl die britische wie die deutsche Staatsbürgerschaft.

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