Kommentar Alpenfestung - Europa und die Schweiz

Europa wird das Spiel nicht mitmachen. Falls die Schweizer geglaubt hatten, sie könnten sich aus dem bunten Strauß der bilateralen Verträge mit Brüssel das herauspicken, was ihnen angenehm ist, aber das wieder zurückgeben, was lästig ist, haben sie sich getäuscht. Die Bereitschaft dieser Union, sich noch länger auf der Nase herumtanzen zu lassen, dürfte erschöpft sein.

Jahrzehntelang hat Brüssel mit Bern ausgehandelt, was jedem Vollmitglied der Gemeinschaft zusteht, ohne dass sich die Alpen-Bewohner auch nur ein Stück in Richtung Europa bewegt hätten. Was nun kommt, scheint absehbar: Entweder die Schweizer Politik bastelt einen Gesetzentwurf, der dem Referendum entspricht, aber die volle Personenfreizügigkeit weiter garantiert - was unmöglich sein wird. Oder aber man fällt zurück in eine Zeit, in der die Eidgenossenschaft eine von scharfen Grenzkontrollen geprägte Alpenfestung war.

Dass die Union derart heftig auf den Ausgang der Volksabstimmung reagiert, hat nicht nur mit dem Ergebnis zu tun. Die zurückliegenden Auseinandersetzungen um die Zuwanderung haben die Gemeinschaft selbst in Probleme gestürzt. Zwischen den Zeilen der erschrockenen und drohenden Botschaften Richtung Bern schwingt auch die Angst vor vergleichbaren Ergebnissen bei einer ähnlichen Abstimmung in den Mitgliedstaaten mit.

Die Gefahr, dass extreme Parteien und Gruppierungen das Schweizer Votum zum Anlass nehmen könnten, die Europawahlen im Mai zu einem Referendum über die europäische Zuwanderungspolitik umzufunktionieren, ist nicht nur theoretisch. Gerade deshalb deklinieren die EU-Spitzen den Wertekatalog dieser Union herunter, verweisen darauf, dass man die Freiheiten nicht einzeln, sondern ausschließlich als Paket haben kann.

In Brüssel befürchtet man wohl auch, dass EU-Skeptiker wie der britische Premier David Cameron auf die Idee kommen könnten, nach seiner Volksabstimmung 2017 ein Schweizer Modell umsetzen zu wollen: alle positiven Errungenschaften der Union auskosten, alles, was man nicht braucht, ablehnen.

Tatsächlich galt die Schweiz lange als ein mögliches Modell für Kooperationen - vielleicht für die Türkei, möglicherweise für die Staaten der östlichen Partnerschaft und des Balkans. Bern zwingt die Europäer nun, zu ihrem Grundprinzip "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", zurückzukehren.

Die Eidgenossen werden begreifen müssen, dass die EU kein Selbstbedienungsladen ist. Die Politiker in Bern haben ihrer Bevölkerung nicht klar genug gemacht, dass ihre Abstimmung auch ein Votum über die Beziehungen zur EU sein würde. Die Schweizer haben nicht nur über die Ausländerpolitik entschieden. Sie haben ihren Platz in Europa neu definiert. Es kann nun nur ein Platz außerhalb der EU sein.

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