Blüms Kritik an der deutschen Justiz polarisiert

Zum Interview von Ulrich Lüke mit Norbert Blüm "Mein Glaube an die Justiz war Kinderglaube", erschienen am 21. Oktober

 Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm lässt in seinem neuen Buch "Einspruch. Wider die Willkür an deutschen Gerichten" kein gutes Haar an der Justiz.

Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm lässt in seinem neuen Buch "Einspruch. Wider die Willkür an deutschen Gerichten" kein gutes Haar an der Justiz.

Foto: dpa

Norbert Blüm beklagt in seinem Interview, dass sich die Justiz in Deutschland als dritte Gewalt im Staat selbstständig gemacht habe und überschätze. Er habe die Justiz für etwas Hehres, Reines gehalten und stelle im hohen Alter fest, dass das ein Kinderglaube gewesen sei. An dieser Stelle haben wir in der Tat etwas gemein: Ich habe Norbert Blüm immer für eine moralische Instanz im Dickicht der politischen Entscheidungsfindung gehalten und stelle jetzt fest, dass dies ein Kinderglaube gewesen sein kann. Denn was er schreibt und sagt wird dem Niveau einer moralischen Instanz nicht (mehr) gerecht.

Wenn er mit Allgemeinplätzen und Pauschalurteilen in dieser Weise über die Justiz herfällt, macht er das, was er der Justiz vorwirft: Er überhebt sich und unterschätzt die Wirkung seiner Kritik. Denn Norbert Blüm wird als ehemaliger Bundestagsabgeordneter und Bundesminister auch heute noch der Legislative als der ersten und der Exekutive als der zweiten Gewalt im Staate zugerechnet, die gut daran tut, die Unabhängigkeit der dritten Gewalt zu wahren.

Man nennt das Gewaltenteilung, und sie ist ein wesentliches Prinzip unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Zu beklagen, dass kein Richter zurücktritt, wenn er Fehler macht, hat dabei fast groteske Züge. wem verlangen wir, dass er seine berufliche Existenz aufgibt, weil er Fehler macht? Von niemandem, auch nicht von Politikern, die letztlich die Verantwortung für das tragen, was er in Wahrheit kritisiert, nämlich die Reform des Eherechts. Darüber zu diskutieren ist legitim, ebenso wie über die Frage nach der Qualität von Sachverständigen. Es muss dann aber auch die Frage erlaubt sein, ob wirklich jeder zu jedem Thema ein Buch schreiben sollte.

Hansjörg Tamoj, Rechtsanwalt, Bonn

Die von Herrn Blüm geäußerte Meinung zu den Familienrichtern kann ich aus der Erfahrung in meinem Bekanntenkreis nur bestätigen. Hier ein Beispiel, von dem ich persönlich nicht betroffen bin, aber durch glaubhafte Schilderung erfahren habe:

Scheidungstermin vor dem Familiengericht in Siegburg. Die Vorsitzende Richterin betritt ganz offensichtlich übel gelaunt den Verhandlungsraum und spricht als erstes von Terminhatz. Arrogant bügelt sie Einwürfe der beiden jungen Rechtsanwältinnen ab, so dass diese dem Rest der Verhandlung nahezu schweigsam folgen.

Zur Entscheidung steht unter Anderem der Einspruch einer Partei gegen den Anspruch auf Versorgungsausgleich wegen Unbilligkeit. Das Argument des zur Zahlung Verpflichteten, dass der Empfänger dann 1000 Euro monatlich mehr als der Zahler habe, wird abgewiesen. Die Begründung der Richterin: "Schließlich haben sie ja bisher auch gut von dem Gehalt mitgelebt." Dies lässt den Verdacht von Bestrafung als Begründung aufkommen.

Ganz offensichtlich kannte die Richterin sich auch nicht mit der Beamtenbesoldung aus, da sie behauptete, es kämen ja noch Rentenanwartschaften dazu, und völlig überrascht war, als sie erfahren musste, dass diese zwar ausgezahlt, aber von den Versorgungsbezügen abgezogen werden. Aber woher soll sie das als Beamtin auch wissen?

Günter Schenk, Sankt Augustin

Die Aussagen von Herrn Blüm sind zutreffend und begründet; er hätte allerdings die Juristen der Staatsanwaltschaft mit einbeziehen müssen. Viele von Ihnen strotzen gleichsam vor Besserwissen, vor bedenklicher Auslegung der Gesetze, ja vor Selbstherrlichkeit.

Meiner später verstorbenen Frau wurde nach einer über fünfstündigen Liegendfahrt im Krankenwagen in einem Krankenhaus während der über 3-stündigen Aufnahmeprozedur nicht einmal trotz vieler Bitten ein Schluck Wasser gereicht. Sie litt für jeden erkennbar. Ich habe Anzeige wegen Körperverletzung durch Unterlassen erstattet. Nach über 3-jährigen Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt, sie hat es nicht einmal einem Richter zur Entscheidung vorgelegt.

Ein von ihr bestellter Gutachter kam ihnen zu Hilfe, indem er nur im Sinne des Gutachtenbestellers Ausführungen machte und sich ganz in die Nähe der Staatsanwaltschaft stellte. Da kommt neben der Meinung von Herrn Blüm noch die Volksweisheit zum Zuge: "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing."

Hans-Georg Marx, Bad Breisig

Soweit Blüm einen Ausflug in die Bereiche des Zivilprozesses unternimmt und behauptet, das Sachverständigenwesen sei dort genauso desolat wie im Familienrecht, bedürfen seine diesbezüglichen Äußerungen einer Richtigstellung. Im Zivilprozess wird ausdrücklich bestimmt, dass das Gericht, wenn es einen Sachverständigen benötigt, einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen beauftragen soll.

Diese Personen werden erst dann öffentlich bestellt, wenn sie besondere Sachkunde und persönliche Eignung nachgewiesen haben. Beide Eigenschaften werden alle fünf Jahre erneut überprüft. Leider hat der Gesetzgeber die öffentliche Bestellung zum Sachverständigen nicht für alle Lebensbereiche vorgesehen. So ist beispielsweise nicht nachvollziehbar, dass es im medizinischen Bereich dieses Rechtsinstrument nicht gibt.

Dass Zivilprozesse in hoher Zahl nicht mit Urteilen, sondern mit Vergleichen enden, ist vom Gesetzgeber gewollt und auch erstrebenswert. Die Situation ist insoweit nicht mit den Deals in Strafprozessen zu vergleichen. Es geht hier nicht nur um Gerechtigkeit um jeden Preis, sondern um Streitvermeidung.

Aus diesen Gründen wird auch mit Recht die Streitvermeidung im vorprozessualen Raum gefördert. Wo Blüm zuzustimmen ist, ist die bei der Bevölkerung kaum bekannte Tatsache, dass sich in Deutschland jedermann selbst zum Sachverständigen ernennen kann, ohne sich zuvor von einer Behörde auf das Vorliegen der hierfür erforderlichen Sachkunde überprüfen lassen zu müssen. Die Bezeichnungen wie Sachverständiger, Gutachter oder Experte sind nicht gesetzlich geschützt.

Peter Bleutge, Wachtberg

Der frühere Arbeits- und Sozialminister Blüm prangert in seinem neuen Buch die gesamte Justiz an. Er selbst sollte genauso angegriffen werden, weil er die Rentner Ostdeutschlands schon damals nach der Wende viel zu hoch eingestuft hatte. Damit war er der Begründer von Ungerechtigkeiten gegenüber den westdeutschen Rentnern.

Er ließ etwa außer Acht, dass es in der DDR "keine Arbeitslosigkeit gab". Westdeutsche Rentner mit echter Arbeitslosigkeit mussten kräftige Rentenkürzungen hinnehmen. Trotzdem ließ er es zu, dass die ostdeutschen Rentner viel zu hoch eingeschätzt wurden. Außerdem wurden die Renten für die neuen Bundesländer aus der westdeutschen Rentenkasse gezahlt.

Inzwischen sind in den neuen Bundesländern die Durchschnittsrenten erheblich höher als in Westdeutschland - nicht nur bei den Frauen.

Dieter Faßbender, Niederkassel-Rheidt

Gut gebrüllt, Löwe, möchte man Norbert Blüm zurufen nach Lektüre des Interviews. Ob alle seine Vorwürfe in Bezug auf die Qualifikation von Gutachtern und die mangelnden Rücktritte von Richtern nach Fehlurteilen berechtigt sind, kann ich nicht beurteilen. Sicherlich teilen aber viele Bürger sein Unbehagen an der ständig steigenden Zahl von Vergleichen anstelle von Urteilen in Zivilprozessen. Allenthalben wird die zunehmende Arbeitsüberlastung der Gerichte dafür verantwortlich gemacht.

Voll ins Schwarze trifft die Kritik von Blüm übrigens, wenn er von der "Abdankung von Anstand und Fairness" spricht. Nur weil etwas nicht ausdrücklich verboten ist, heißt das noch lange nicht, dass es erlaubt und opportun ist. Leider ist eine Ellbogenmentalität in unserer Gesellschaft unübersehbar, sei es im Straßenverkehr, sei es im alltäglichen Miteinander. Rücksichtnahme auf Schwächere und Freundlichkeit gegenüber den Mitmenschen sind auf dem Rückzug. Was zählt ist der persönliche Vorteil. Diese Entwicklung macht dann auch vor der Ehe nicht halt.

Gisela Kirsten, Bonn

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