Reaktion aus Russland Kreml erkennt Sinai-Flugzeugkatastrophe als Terror an

Moskau · Moskau präsentiert sich angesichts des Entsetzens über das Blutbad in Paris als neue antiterroristische Hauptkraft.

 Der russische Geheimdienst FSB hat den Absturz der Passagiermaschine über der Sinai-Halbinsel in Ägypten als Anschlag eingestuft. FOTO: AFP

Der russische Geheimdienst FSB hat den Absturz der Passagiermaschine über der Sinai-Halbinsel in Ägypten als Anschlag eingestuft. FOTO: AFP

Foto: RUSSIA'S EMERGENCY MINISTRY

Von unserem Korrespondenten

STEFAN SCHOLL

Moskau. Wladimir Putins Rede war kurz, aber eindrücklich. "Die Ermordung unserer Menschen über dem Sinai gehört zu den blutigsten Verbrechen in der Geschichte. Und wir werden die Tränen nicht von unseren Seelen und Herzen wischen", sagte der Präsident. "Aber das hindert uns nicht, die Verbrecher zu finden und zu strafen."

Russlands Führung hat bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates erklärt, dass der Absturz des russischen Airbus über dem Sinai am 31. Oktober Folge eines Terroraktes war. "An Bord explodierte ein Sprengsatz mit einer Stärke von bis zu einem Kilogramm Trotyl, der zum Zerbrechen des Flugzeuges in der Luft führte", erklärte Alexander Bortnikow, Chef des russischen Sicherheitsdienstes FSB. Damit hat Russland nach langem Zögern die westlichen Informationen bestätigt, dass die 321 getöteten Insassen der Passagiermaschine Opfer von Terroristen wurden. Aber Russland habe schon früher barbarische Terrorschläge erlebt, meist ohne sichtbare äußere oder innere Gründe, wie etwa die Explosion vor dem Wolgograder Bahnhof im Dezember 2013.

Russland bleibt ruhig. Die Terrorattacken von Paris haben auch hier den Airbus-Absturz aus den Schlagzeilen verdrängt und viel Mitleid hervorgerufen, noch immer häufen sich die Blumen vor der französischen Botschaft. Seit dem Start der Militäroperation in Syrien Ende September veranstalten Behörden und Medien in der Heimat einen bisher eher virtuellen Antiterrorkampf. Im Moskau wurde Mitte Oktober eine Gruppe Kaukasier, mutmaßliche Terroristen des Islamischen Staates (IS), festgenommen, in Dagestan ein anderer mutmaßlicher IS-Terrorist erschossen. Tschetschenenchef Ramsan Kadyrow meldete ein vereiteltes IS-Attentat auf ihn selbst, in der U-Bahn und an Bushaltestellen hängen kaukasische Fahndungsfotos. Die Zeitungen drucken Ratschläge zum Verhalten bei Geiselnahmen. Und wenige Tage vor den Anschlägen in Frankreich stellten IS-Propagandisten ein Video ins Internet, auf dem sie Russland "sehr bald" ein "Meer von Blut" androhten. Dass dieses Blut dann in der französischen Hauptstadt vergossen wurde, ruft bei vielen Russen außer Betroffenheit auch das fatalistisch beruhigende Gefühl hervor, zurzeit lebe es sich in anderen Staaten noch gefährlicher.

Viele Beobachter glauben, dieser Moment sei für das offizielle Eingeständnis, auch die russischen Flugpassagiere seien Terroropfer geworden, sehr günstig. "Irgendwann hätte man es doch zugeben müssen", sagt der Moskauer Nahost-Experte Ochran Dschemal unserer Zeitung. Nach den Pariser Terrorfreitag aber lasse sich sogar außenpolitischer Nutzen daraus ziehen. "Das Pariser Blutbad ist so etwas wie ein zweiter 11. September. Russland bombardiert bisher in Syrien zwar zu 90 Prozent andere Anti-Assad-Rebellen und nur zu zehn Prozent Kämpfer des Islamischen Staates. Aber der virtuelle Wert dieser zehn Prozent Bomben hat sich gleich um ein Vielfaches erhöht." Russland könne jetzt mit mehr Unterstützung für seine Syrienpolitik rechnen.

Wladimir Putin erklärte demonstrativ, man rechne bei der Fahndung nach den Tätern "auf all unsere Freunde", vorher hatte er es jahrelang vorgezogen, ironisch von "unseren westlichen Partnern" zu reden. Russische Medien feiern seinen Auftritt beim türkischen G20-Gipfel als Ende der russischen Isolation. Auch das liberale Internetportal Medusa zitiert westliche Nachrichtenagenturen, um zu belegen, dass Europa und die USA drauf und dran sind, Russlands neue Führungsrolle in der Syrienfrage anzuerkennen. So stimme inzwischen Obama einer politischen Regelung ohne äußere Einmischung und unter UN-Ägide zu - ein russischer Plan.

Allerdings halten Fachleute die Diskussion über eine politische Lösung in Syrien für verfrüht. "Das ist ein diplomatisches Spiel, tatsächlich ist es noch ein weiter Weg bis zum Beginn eines politischen Prozesses. Und niemand erklärt, wie man dorthin gelangt", sagt der Moskauer Politologe Alexander Schumilin. Noch geht der Vielfrontenkrieg heftig weiter.

Weniger liberal gesonnene Russen hoffen darauf, dass der Westen in Folge des IS-Terrors auch im Verhältnis zu Russland entscheidend geschwächt wird. "Wenn in Frankreich zum Beispiel Marine Le Pen an die Macht kommt, wird Russland einen sehr mächtigen Verbündeten in Europa haben", schreibt der nationalbolschewistische Schriftsteller Sachar Prilepin. "Und dann werden wir sehen."

Auch der Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow glaubt, der Kreml setze jenseits der Syrienfrage seine Konfrontation mit dem Westen fort. Putin ziehe Obama mit Hilfe Syriens am Zopf, wie ein Flegel ein Mädchen, mit dem er anbändeln will. "Aber dann zeigt das Staatsfernsehen angeblich versehentlich Projektfotos eines Riesentorpedos, der bis zur amerikanischen Küste schwimmen und dort 200 Millionen Menschen töten kann." Da zeige sich Putin wieder als Flegel, der mit laufender Motorsäge hinter dem Mädchen herlaufe.

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