Erinnerungen an eine Jugend ohne Handy

Bonn · Über die ersten Schnitzel im "Wienerwald", fehlende Ideologien, Cola mit vier Strohhalmen und einen Abend am See mit fast so vielen Stimmen wie Mücken. Zwei Babyboomer, heute Journalisten, erinnern sich daran, wie es war, immer unter vielen Gleichaltrigen aufzuwachsen.

Stefan Willeke schreibt in der "Zeit": "Wir waren die Kinder der Kinder des Krieges, die unbesorgten Söhne und Töchter besorgter Mütter und Väter. Wir sahen vieles zum ersten Mal: die knusprigen Schnitzel in den Restaurants der Kette Wienerwald, die gewaltigen Eisbecher in den norditalienischen Cafés. Wir waren die Kinder, die hinten in den VW-Käfern in den engen Ablagekuhlen saßen, als unsere Eltern das erste Mal in ihrem Leben die Alpen überquerten und Italien erreichten, das Sehnsuchtsland, wo wir uns eine kleine Flasche Cola kaufen durften - mit vier Strohhalmen.

Wir waren brav, wir sind es geblieben. Wir waren eine entfernte Nachhut der Straßenkämpfer, und nur wir hätten die ideale Truppenstärke für den Kampf gegen Systeme gehabt, aber wir schufen nichts Symbolisches, nicht einmal ein kleines Woodstock.

Wir können mit dem Hedonismus unserer Nachfolger, der Generation Golf, wenig anfangen, weil wir nicht jeder Idee ein Produkt abtrotzen wollen, und doch waren wir auf Dauer unfähig zur Ideologie. Wir waren als Jugendliche gegen Atomkraftwerke, gegen den US- Imperialismus, gegen den Papst. Wir hielten die Polizisten, die sich uns bei Demonstrationen auf der Straße entgegenstellten, für Knechte des repressiven Staates, jenes Staates, den wir heute gegen die Gier der Banker verteidigen. Wir hatten das Privileg, uns Gegner einbilden zu können. Wir waren eine Weile ideologisch, weil wir uns in der Mehrheitsmeinung geborgen fühlten. Wir waren aus hedonistischen Gründen ideologisch, das ist keine gute Grundlage für eine Ideologie. Wir besetzten leer stehende Häuser und gingen am Wochenende darauf zur Tanzstunde, wo wir unsere Haltung korrigieren ließen."

Jochen Arntz (geboren 1965) ist Redakteur der Süddeutschen Zeitung und hat mit "1964 - Deutschlands stärkster Jahrgang" (Süddeutsche Zeitung Edition, 289 S., 19,95 Euro) ein lesenswertes Buch geschrieben. Darin erinnert er sich unter anderem an seine Jugend. Auszug:

"Die Schule war noch nicht vorbei, alle waren zusammen, wie immer. So viele in der kleinen Stadt, so viele Mädchen und so viele Jungen in den vollen Klassenzimmern, morgens in den alten Schulbussen mit den beschlagenen Fenstern, an der Ampel auf den Mofas. Auf dem Pausenhof, wo man kaum ein Bein vor das andere setzen konnte, schon gar nicht in der Raucherecke, wo die Coolen standen, ihre grünen Parkas trugen und wenig redeten. Und die Pärchen dazwischen, die gar nicht verstehen konnten, dass die anderen noch keinen abbekommen hatten. Es waren doch genügend da.

Und jetzt dieser Abend am See. An den Bäumen rund ums Ufer lehnten die Fahrräder, dahinter auf dem Weg standen die Mopeds, die roten Vespas der Mädchen, und ganz hinten an der Straße, auf dem Kiesparkplatz ein paar alte Käfer, kantige, rostige Mercedes-Diesel mit “Stoppt-Strauß„-Aufklebern, zwei, drei Enten und ein flaschengrüner Passat-Kombi, geliehen von den Eltern, nur für diesen Abend. Einer hatte schon eine Kenwood-Anlage in seinem Mini Cooper. Was für ein Sound. 2 x 60 Watt. Und alles auf Kassette, Deep Purple, “Smoke on the Water„. Der See brannte, das passte doch. Langsam wurde es dunkel, überall am See lagen sie und redeten, sie waren keine Kinder mehr, aber noch nicht erwachsen, obwohl es sich längst so anfühlte. So viele Stimmen am See, so viele wie Mücken fast. Kein Handyklingeln, Handypiepen oder -schnarren, das gab es noch gar nicht. Nein, das alles gab es wirklich nicht, kein rot blinkendes Blackberry, kein schimmerndes iPhone, nichts davon.

Man konnte gar nicht alle kennen, an diesem Abend am See, weil es einfach zu viele waren, die auf den Steinen am Ufer lagen, knutschten oder einfach auf das schwarze Wasser schauten. Aber wichtig war, dass alle da waren, weil man immer etwas zusammen machte, damals."

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