Neue Nachbarn Schon die Altersfrage ist oft heikel

246 minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern werden in Bonn versorgt. Die meisten kommen in diesem Jahr aus Afrika.

An einer Zufahrtsstraße nach Bonn durfte er aus dem Lkw. Damals, im November 2015, schwappte die Flüchtlingswelle nach Deutschland und in die Bundesstadt. Mit ihr kam auch Dilan (Name geändert) – ohne Eltern oder Geschwister, ohne Geld oder Papiere, nur mit Smartphone. Damit rief er einen Bekannten an, der schon in Deutschland war. Schließlich gibt es viele syrische Kurden in der Stadt. Das wusste auch Dilan. Deshalb wollte er nach Bonn. Der Bekannte brachte ihn zur Polizei.

Etwa jeder 20. Flüchtling, der nach Deutschland kommt, ist nicht volljährig und kommt ohne Eltern. 183 solcher Minderjährigen suchten 2016 Schutz in Bonn (von bundesweit 35 939), 97 waren es bislang in diesem Jahr, berichtet Jugendamtsleiter Udo Stein. Insgesamt betreut seine Behörde aktuell 246 Kinder und Jugendliche, deren Erziehungsberechtigte nicht bei ihnen sind oder die nicht mehr leben. Das sind einige mehr als die Stadt müsste. Nach dem seit 2015 gültigen bundesweiten Verteilschlüssel hätte Bonn 220 unbegleitete Flüchtlinge zu versorgen.

„Dilan ist kein typischer Fall“, sagt Matthias Bisten, der als Fachdienstleiter für unbegleitete Flüchtlinge zuständig ist. Einen typischen Fall gebe es nämlich nicht. „Das Spektrum reicht von Jugendlichen, die ihre Eltern im Mittelmeer haben ertrinken sehen, bis zu solchen, die in Istanbul in ein Flugzeug nach Deutschland gestiegen sind.“ Es gibt nur statistische Häufungen. Fast ausschließlich kommen Jungen, meist zwischen 15 und 17 Jahre alt. In den beiden Vorjahren waren es vor allem Syrer und Afghanen. Dieses Jahr dominieren Herkunftsländer aus Afrika: Guinea, Eritrea und die Maghreb-Staaten Marokko und Algerien.

Erfahrung aus Hauptstadtzeiten

Das Verfahren ist für alle gleich. Das Jugendamt führt ein Erstgespräch mit Dolmetscher. In diesem sogenannten Screening erzählte auch Dilan seine Geschichte – von den Eltern und den zwei Geschwistern in Damaskus, dass er vom Militär eingezogen werden sollte, von seiner Flucht auf eine griechische Insel und von dort über den Landweg nach Bonn. Im Jugendamt hat man mit solchen Fällen Erfahrung. Schon zu Hauptstadtzeiten seien verhältnismäßig viele unbegleitete Kinder in die Stadt gekommen. „Die Kompetenz im Umgang mit ihnen haben wir uns zum Glück erhalten und immer weiter ausgebaut“, sagt Bisten.

Nach dem Erstgespräch muss das Jugendamt binnen sieben Tagen tätig werden. Ist der Betroffene erkennbar minderjährig, nimmt es ihn vorläufig in Obhut, meldet ihn dem LVR und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Die Unterbringung übernimmt im Auftrag der Stadt die Evangelische Jugendhilfe Godesheim gGmbH der Julius Axenfeld Stiftung in Bad Godesberg.

Auch Dilan musste sich einer Altersfeststellung unterziehen. Dieses Verfahren ist bundesweit umstritten. Dabei schließen Ärzte etwa aus Röntgenbildern des Handwurzelknochens oder aus Untersuchungen der Genitalorgane auf das Alter des Betroffenen. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie hat gegen derartige Untersuchungen protestiert. Der Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Bumf) betont, es handele sich stets nur um eine Altersschätzung, denn „es existieren weder Methoden, um das Alter einer Person festzustellen, noch einheitliche Verfahren oder besondere Stellen, die konkret mit der verbindlichen Klärung dieser Frage betraut sind“.

Weil Dilan als minderjährig eingeschätzt wurde und seine Eltern nicht entscheidungsfähig in Damaskus waren, musste das Jugendamt ihm einen Vormund suchen, den das Familiengericht dann bestellt. In Bonn gibt es ein Pilotprojekt mit 31 eigens geschulten ehrenamtlichen Vormündern, die die Versorgung ihrer Mündel organisieren und deren Interessen wahrnehmen. Wie aus dem Schriftverkehr mit einer Interessentin hervorgeht, der dem GA vorliegt, ist das Jugendamt an weiteren Teilnehmern nicht interessiert. Man habe schließlich mehr Personal bekommen. „Zwar können wir die vorgeschriebene Kontaktpflicht nicht immer einhalten, die nötigen Anträge zum Beispiel auf Asyl werden aber natürlich gestellt“, heißt es darin.

Bis zu 50 Flüchtlinge unter einem Vormund

Die meisten Betroffenen bekommen somit einen Amtsvormund. Das sind Mitarbeiter im Jugendamt, die in Bonn jeweils 50 Fälle betreuen. Das ist die gesetzliche Höchstgrenze und sozialpolitisch umstritten. „Etwa einmal im Monat treffen wir uns mit den Jugendlichen, um Probleme zu besprechen und offene Fragen zu klären“, erklärt Matthias Bisten, der ebenfalls Fälle übernimmt. Früher sei der Kontakt selten persönlich gewesen. „Das ist heute sehr viel besser. Man kann so viel sicherer entscheiden, was das Beste für den Jugendlichen ist.“ Auch nach der Volljährigkeit kümmere sich das Jugendamt so lange weiter, bis der Betroffene eine verlässliche Perspektive habe.

Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Vereins Flüchtlingsrat NRW mit Sitz in Bochum, sieht Amtsvormünder kritisch: „Ein Vormund soll ja parteiisch im Sinne des Mündels entscheiden. Das ist bei einem Amtsvertreter schwierig, schon gar, wenn der sich nebenbei um 50 Mündel kümmert.“

Sechs bis acht Wochen bleiben die jungen Flüchtlinge nach ihrer Ankunft im Godesheim für ein sogenanntes Clearing. Dabei wird über ihre Zukunft entschieden: ihre Unterbringung, ihre Schulpflicht und Ausbildung, über Anbindung an Vereine, ob sie einen Asylantrag stellen oder einen anderen Aufenthaltstitel anstreben und Familiennachzug beantragen.

Acht Pflegefamilien in Bonn haben junge Flüchtlinge aufgenommen. Der Rest kommt in je nach Fall mehr oder weniger intensiv betreuten Wohngruppen unter. „Fast alle sind hoch motiviert, hier ein neues Leben zu beginnen“, beobachtet Stein. Aber einige würden auch straffällig. Für die Träger solcher Einrichtungen ist das ein sehr gut bezahltes Geschäft. Die Kosten für die Versorgung der 246 jungen Flüchtlinge in Bonn von näherungsweise zwölf bis 13 Millionen Euro trägt das Land.

Auch Dilan bekam einen Platz in einer Wohngruppe mit fünf anderen Jungen mit eigenem Zimmer. Im Sommer 2016 kam er in der Förderklasse einer Hauptschule unter und lernt nun vordringlich Deutsch. Nach seinem Asylantrag erhielt er schon nach zwei Monaten Asyl für drei Jahre. Danach kann er eine Niederlassungserlaubnis beantragen. Der Nachzug seiner Eltern und Geschwister wurde indessen auch nach 18 Monaten noch nicht bewilligt. Dilan sei deshalb oft traurig, berichten sie im Jugendamt. Ihn selbst befragen konnte der GA nicht. Ein Gespräch mit den unbegleiteten Flüchtlingen lehnte die Stadt Bonn als Vormund ab.

Wie gut die häufig traumatisierten Jugendlichen betreut werden, lässt sich damit nicht abschätzen. Bei einer bundesweiten Umfrage des Bumf unter 1400 Fachkräften in der Flüchtlingshilfe hatten im Sommer vergangenen Jahres 60 Prozent eine unzureichende Versorgung und Betreuung bemängelt. Viele verschwänden einfach, um sich der Verteilung auf andere Kommunen zu entziehen. Anders als in anderen Städten werden nach Aussage der Stadtverwaltung alle Betroffenen in Bonn in geeigneten Einrichtungen in der Stadt versorgt. „Eine echte Herausforderung, aber es funktioniert“, sagt Jugendamtsleiter Stein. Und auch wenn manchen sicher das Heimweh plagt, kehrte seit 2015 nur ein minderjähriger Flüchtling nach Hause zurück. Seine Eltern waren schwer erkrankt.

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