11.600 Kinder und Jugendliche betroffen Experte warnt vor wachsender Kinderarmut in Bonn

Bonn · Über 11.600 Kinder und Jugendliche leben in der Bundesstadt unter der Armutsgrenze. In ganz Deutschland sind es 2,8 Millionen. Die Zahlen könnten noch weiter steigen.

Eigentlich, sagte Christoph Butterwegge bei der Jahreshauptversammmlung des Stadtverbands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), eigentlich spreche er ungern über das Thema Kinderarmut, für das er eingeladen wurde.

Nach den neusten Zahlen des Jobcenters (von 2017) betrifft dieses Problem in Bonn 5849 „Bedarfsgemeinschaften“, die Arbeitslosengeld II beziehen. Laut Presseamt waren 2018 in diesen Familien 11.615 Kinder von Armut betroffen. Bei den 55.692 Minderjährigen, die laut der Statistikstelle der Stadt in Bonn leben, lebt also jeder fünfte Minderjährige Bonner unter der Armutsgrenze.

EU-Definition der Armutsgrenze
„Das Problem wird über Kinder jedoch schnell verniedlicht und verharmlost“, sorgte sich Butterwegge. Eigentlich nehme er also lieber die „Reseniorisierung der Armut“ in den Fokus. Also das noch bedrückendere Anwachsen von Armut unter älteren Bürgern, die gerne als „Sozialschmarotzer“ diffamiert würden.

Der Politikwissenschaftler war 2017 Bundespräsidenten-Kandidat der Linken und ist nun in die Gutachter-Kommission für den sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung berufen. Da kritisiere er, dass die Anti-Armuts-Maßnahmen des neuesten Koalitionsvertrags nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein bedeuteten, stellte Butterwegge klar.

Nun also doch zur Kinder- und damit zur Familienarmut, fuhr er fort. Und lieferte eine gute Stunde lang ohne Manuskript einen Parforceritt durch die Sozialpolitik. Laut Mikrozensus seien heute in Deutschland 20,4 Prozent der Bürger unter 18 Jahren, also 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche, armutsgefährdet: Sie würden nicht vernünftig ernährt und gekleidet und kämen kaum ins politisch kulturelle Leben sowie in zwischenmenschliche Beziehungen hinein.

Für alle Altersstufen rechne die Statistik mit 15,8 Prozent, also 13,4 Millionen armer Menschen – ein Skandal auch angesichts des wachsenden Reichtums Einzelner, so Butterwegge. Die beiden Quandt-Erben allein erhielten nur für ihre BMW-Aktien 1,126 Milliarden Euro Dividende. Es gebe in seinen Augen vier Ursachen für Kinderarmut. Und hier las der Mann, der 2005 aus Protest gegen den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder aus der SPD austrat, den Genossen die Leviten.

Verantwortlich sei erstens die Auflösung normaler Arbeitsverhältnisse durch die Agenda 2010 und die Hartz-IV-Gesetze, womit bewusst der europaweit größte Niedriglohnsektor geschaffen worden sei, so Butterwegge. Selbst Menschen in Arbeit müssten seither mit Hartz IV aufstocken: „Und damit werden Unternehmen subventioniert, die Hungerlöhne zahlen.“ Zweitens erhöhe die Auflösungstendenz der „Normalfamilie“ die Gefahr für Kinder, arm aufzuwachsen, weil „normal“ in Deutschland immer noch heiße: ein Ehepaar plus Kinder.

Drittens habe die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe die Normalität der sozialen Sicherung aufgelöst und die Armutszahlen in die Höhe schnellen lassen sowie Hass und Wut der Betroffenen entfacht, beklagte der Referent. Was also sei zu tun? Er fordere, den Mindestlohn auf zwölf Euro anzuheben, Minijobber unbedingt sozialversichern zu lassen und sich nicht, wie derzeit praktiziert, mit einer Arbeitslosenquote von fünf Prozent zufriedenzugeben, so Butterwegge.

Zudem müssten mehr Ganztagsschulen her und endlich auch Schulen, in denen bis zur 10. Klasse gemeinsam gelernt werde. Dringend nötig sei auch eine Bürgerversicherung, die ihren Namen verdiene. Die von vielen geforderte Kindergrundsicherung sei seiner Ansicht nach jedoch nicht geeignet, sagte der Experte. Denn pauschalierte Transferleistungen, die alle über einen Kamm scherten, könnten nie sachgerecht gegen Armut wirken.

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