Todesfall von Ahlem Dalhoumi aus Beuel Die Familie will die Schuldigen bestraft sehen

BONN/KASSERINE · Vor einem Jahr, am 23. August 2014, starben Ahlem und Ons Dalhoumi durch Schüsse der Polizei. Heute gedenkt ihre Familie im tunesischen Kasserine der beiden jungen Frauen.

"Wir müssen daran erinnern und alle Umstände aufklären", sagt Tante Arbia Dalhoumi. Denn es hat noch keinen Gerichtsprozess gegeben.

Das, was damals geschah, hat sich in Sondes Erinnerung eingebrannt. Die Schwester von Ahlem steuert den silberfarbenen Golf auf dem Rückweg von einer Hochzeitsfeier nach Kasserine. Ahlem ist Beifahrerin. Im Fond sitzen die Cousinen Ons aus Tunesien und Yasmin, die wie Ahlem in Beuel aufgewachsen ist. Es quetschen sich noch drei weitere Freunde und Verwandte ins Fahrzeug.

Als das Auto kurz nach Mitternacht in den unbefestigten Weg abbiegt, ist die Stimmung ausgelassen. Sondes hat die "2.-März-Straße" gewählt, um nicht auf der buckeligen Hauptstraße aufzusetzen. Auch die unbeleuchtete Piste ist in einem schlechten Zustand, Sondes kann kaum schneller als 20 Stundenkilometer fahren.

Dann springen schwarz gekleidete Männer auf die Fahrbahn. Dass es Polizisten sind, kann Sondes nicht erkennen. Zwei der insgesamt elf Beamten, die vor Ort sind, ziehen ihre Pistolen. Halten die Insassen für Terroristen, wie sie später zu Protokoll geben. Sondes tritt aufs Gaspedal, will fliehen. Die Männer schießen von hinten auf das davonfahrende Auto, treffen Ahlem, Ons und Yasmin. Ahlem ist sofort tot. Ons stirbt in derselben Nacht an ihrer schweren Kopfverletzung. Yasmin überlebt schwer verletzt, eine Kugel bohrt sich in ihre Schulter. Keiner der Polizisten leistet den jungen Menschen Hilfe. Sie schleppen sich selbst ins Krankenhaus.

Wenn die Tanten Arbia und Fadhila Dalhoumi darüber sprechen, sind ihre Stimmen zittrig, aber bestimmt. Sie sitzen auf einer Bank vor den Hochhäusern in der Siegburger Straße in Beuel. Dort, wo Ahlem als Kind spielte und groß geworden ist. Für ihr Jurastudium war die 21-Jährige nach Bielefeld gezogen, wollte Rechtsanwältin werden. Um Unrecht zu verhindern. Gerade sie stirbt bei einem umstrittenen Polizeieinsatz, der, wie Fadhila Dalhoumi berichtet, typisch für die tunesischen Schutzbeamten ist. "Erst schießen, dann fragen. Es ist ein gewalttätiges, ein korruptes System", sagt sie. In ihren Augen wurde die jungen Frauen ermordet. "Das war eine Hinrichtung."

Weit sind die Ermittler bisher nicht gekommen. Auf tunesischer Seite wird nach kurzer Zeit der Staatsanwalt entlassen, der den Fall laut Fadhila Dalhoumi akribisch untersuchte. "Noch in der Nacht war er am Tatort und sammelte die Patronen auf", erzählt sie. Der zweite Staatsanwalt wird nach einigen Wochen versetzt, zunächst gibt es keinen Nachfolger. Dann kehrt er wieder zurück. Die Polizisten sind derweil auf freiem Fuß. Was nicht nur in Bonn für Demonstrationen sorgt, die von der Familie organisiert werden. Auch in Kasserine gehen die Menschen mit Plakaten auf die Straße. "Wir fordern Gerechtigkeit", rufen sie an der Godesberger Allee dem tunesischen Generalkonsul Hichem Marzouki zu. Er verspricht eine lückenlose Aufklärung, ebenso wie der tunesische Präsident Moncef Marzouki, der die Dalhoumis in Tunis empfängt. Die beiden Brüder sind mittlerweile nicht mehr im Amt.

"Das waren leere Worte, es folgten keine Taten", sagt Arbia Dalhoumi. Sie glaubt, dass alles eine Hinhaltetaktik ist. Wie Michael Hakner, dem Anwalt der Familie, ist ihr klar, dass eine Anklage in Tunesien nicht mehr möglich ist, wenn die Untersuchungshaft länger als ein Jahr dauert. Darin sitzt aktuell Mourad H., der nach ersten Erkenntnissen die tödlichen Schüsse abfeuerte. In Deutschland stritten die Bonner und die Bielefelder Staatsanwaltschaft um den Fall, jetzt liegt er in Bonn. Oberstaatsanwalt Robin Faßbender stellte vor wenigen Wochen ein Rechtshilfeersuchen.

Warum wurde er erst so spät tätig? "Aus Erfahrung wissen wir, dass man so ein Ersuchen nicht zu früh stellen sollte", erklärt er. Damals hätte man vermutlich von den tunesischen Behörden nur die Aussage bekommen, dass die Ermittlungen laufen. Nun stünden die Chancen besser, komplette Akteneinsicht zu bekommen.

Die Dalhoumis scheinen den Bonnern einen Schritt voraus: Sie besorgen die gesamte Ermittlungsakte und übergeben sie der Staatsanwaltschaft. Die sei laut Faßbender nun mit der Übersetzung beschäftigt. Welche Anhaltspunkte darin stehen, kann Faßbender nicht sagen. Anwalt Hakner formuliert es vorsichtig: Es gebe ein ballistisches Gutachten, das eine Tatbeteiligung nahe lege. Fadhila Dalhoumi wird da deutlicher. Im Auto sollen drei Kugeln gefunden worden sein, die aus Mourad H.s Waffe stammen. "Die anderen Polizisten bestätigten, dass es keinen Schießbefehl gab", sagt sie. Ihre Nichten seien "kaltblütig ermordet" worden.

Der Kampf gegen Ungerechtigkeit und das Gefühl, hilflos zu sein, macht die Familie müde. "Manchmal haben wir Angst, dass alles im Sande verläuft", sagt Fadhila Dalhoumi. Denken sie an Ahlem und Ons, schöpfen sie neue Kraft, organisieren Demonstrationen, die Gedenkfeier, posten auf Facebook Bilder und Aufrufe, schreiben Petitionen an Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Gauck. Die Dalhoumis wissen, dass es Gerechtigkeit nur in Tunesien geben kann. Denn der Staat, so schätzt es Faßbender ein, wird die Täter nicht an Deutschland ausliefern.

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