Uniklinik Bonn informiert über chronische Leukämie Eine schleichende Gefahr

BONN · Beim nächsten Patientenkolloquium der Bonner Uniklinik geht es um Diagnose und Therapie chronischer Leukämie.

 Experten beim Patientenkolloquium: Professor Dominik Wolf und Oberärztin Dr. Annkristin Heine (von rechts).

Experten beim Patientenkolloquium: Professor Dominik Wolf und Oberärztin Dr. Annkristin Heine (von rechts).

Foto: UKOMM_Uniklinik Bonn

Blut ist überall – zu jeder Zeit. Es wird bei einem gesunden Erwachsenen 70 bis 80 Mal pro Minute durch den gesamten Körper gepumpt. Es lässt sich nicht operieren, wie man einen bösartigen Tumor aus einem Organ herausschnitte. Bei der Diagnose Leukämie scheint die lebensnotwendige Flüssigkeit plötzlich selbst zum Feind geworden zu sein, dem man nicht ausweichen kann – der überall hingelangt, mit jedem Atemzug.

Was der Volksmund gemeinhin mit dem Begriff „Blutkrebs“ bezeichnet, sind bösartige Erkrankungen des blutbildenden oder lymphatischen Systems. Und das Bild, das sich viele von der Krankheit machen, wird meist von einem akuten, aggressiven und binnen weniger Wochen lebensbedrohlichen Verlauf bestimmt. Diesen bezeichnet man als „akute“Leukämie.

Es gibt aber auch chronische Formen, die sich oft über mehrere Jahre entwickeln und im Anfangsstadium häufig noch relativ wenige oder so gut wie keine Symptome verursachen. Sie lassen sich in die chronische myeloische Leukämie (CML) und die chronische lymphatische Leukämie (CLL) unterteilen. Was diese beiden Formen in Symptomatik und Therapie unterscheidet, erklären die Hämato-Onkologen Professor Dominik Wolf – stellvertretender Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III – und die Oberärztin Dr. Annkristin Heine beim nächsten Patientenkolloquium der Bonner Uniklinik am kommenden Donnerstag, 18. Februar.

Bei einer Leukämie entstehen statt normaler, ausgereifter weißer Blutkörperchen (Leukozyten) unreife oder nicht funktionstüchtige Zellen im Knochenmark oder im Lymphsystem. „Bei der myeloischen Leukämie teilen sich Vorstufen der weißen Blutkörperchen unkontrolliert“, erläutert Wolf „Die lymphatische Form hingegen“, ergänzt Heine, „betrifft die für das Immunsystem notwendigen B-Zellen.“ Ihre Hauptaufgabe besteht in der Produktion von Antikörpern zur Abwehr von Krankheitserregern. „Bei der CLL findet man eine Vermehrung reifer B-Zellen, die sich ebenfalls unkontrolliert vermehren.“

Beide Formen der chronischen Leukämie werden oft erst per Zufall entdeckt – bei zumeist älteren Patienten zwischen dem 60. und 80 Lebensjahr. „Das mag ein großes Blutbild vor einer Operation – zum Beispiel beim Einsatz eines neuen Hüftgelenks – oder auch die Untersuchung nach einem Unfall sein“, fügt Wolf hinzu. Eine deutliche Erhöhung der Leukozytenzahl kann dabei auf eine chronische Leukämie hinweisen.

Dem Zufallsbefund – und das trifft auf etwa 50 Prozent der CML- und CLL-Diagnosen zu – können erste Symptome wie Müdigkeit und Abgeschlagenheit vorausgegangen sein. „Es gibt aber auch zahlreiche Patienten, die sich vorher total fit gefühlt haben und aus allen Wolken fallen, wenn sie die Diagnose erhalten“: Solche Situationen erlebt auch die Oberärztin immer wieder.

Zu den typischen Symptomen der CML gehören im fortschreitenden Verlauf ein spürbarer Leistungsknick, Gewichtsverlust und Nachtschweiß sowie Vergrößerungen der Milz und der Leber. Bei der CLL können die Lymphknoten anschwellen; vor allem am Hals, in der Achselhöhle und in der Leiste. Die wegen der hohen Zahl von undifferenzierten Leukozyten mitunter auch als „Weißblütigkeit“ bezeichnete Leukämie erhöht allgemein die Anfälligkeit für Infektionen, da die sich unkontrolliert vermehrenden weißen Blutkörperchen oft nicht voll funktionsfähig sind. Zudem werden nach und nach die Blutplättchen sowie die roten und funktionsfähigen weißen Blutkörperchen verdrängt, so dass sich eine Neigung zu Blutungen (zum Beispiel beim Zähneputzen) aber auch eine Blutarmut mit Schwächegefühl entwickeln kann.

Die "CML" tritt überwiegend im Erwachsenenalter auf

Chronische Leukämie ist überwiegend eine Erkrankung des reifen Erwachsenenalters. Männer sind etwas häufiger davon betroffen als Frauen. CML wird am häufigsten im Alter zwischen 60 und 65 Jahren festgestellt. Bei der Diagnose CLL – sie ist die europaweit häufigste Form von Leukämie – sind Frauen im Mittel meist 75 und Männer 72 Jahre alt. Es können natürlich auch wesentlich jüngere Patienten betroffen sein; aber das kommt deutlich seltener vor.

Der Arzt und Pathologe Rudolf Virchow hat 1845 erstmals das Krankheitsbild einer chronischen myeloischen Form beschrieben und nannte es Leukämie. 1960 wurde in Philadelphia die für CML typische Chromosomenveränderung gefunden. Und die Hämatologin Janet Rowley, Professorin der Universität von Chicago, konnte 1972 nachweisen, dass das sogenannte Philadelphia-Chromosom durch eine Umlagerung von genetischem Material zustande kommt.

Es war die erste Veränderung dieser Art überhaupt, die mit der Entstehung von Krebs in Verbindung gebracht werden konnte und die tatsächlich bei mehr als 95 Prozent der CML-Patienten nachweisbar ist. Auf den Chromosomen 9 und 22 liegen die Gene ABL und BCR – auf dem „Philadelphia-Chromosom“ 22 wird dabei nun das neue Eiweiß BCR-ABL gebildet, das zur Enzymklasse der Tyrosinkinasen gehört und für die unkontrollierte Vermehrung der Blutzellen verantwortlich ist.

Wenn man den Wert dieses Eiweißes regelmäßig misst, lässt sich beobachten, wie sich die Erkrankung entwickelt; beziehungsweise wie die Behandlung anschlägt. „Ziel der Therapie ist es, durch den Einsatz von speziellen, auf die Hemmung von BCR-ABL ausgerichteten, Medikamenten einen tiefen Wert zu erreichen und diesen auch langfristig zu halten“, fasst Wolf zusammen. Eine wirkungsvolle Behandlung – auch wenn speziell dieses Eiweiß nicht ganz gezielt gehemmt werden kann und bei manchen Patienten Nebenwirkungen wie Wassereinlagerung um die Augen, in den Beinen und in der Lunge sowie Hautausschläge auftreten können.

Unbehandelt jedoch wird die zunächst langsam verlaufende, chronische myeloische Leukämie nach einigen Jahren in eine rascher verlaufende Form übergehen und im weit fortgeschrittenen Stadium in einer der akut myeloischen Leukämie vergleichbaren Erkrankung münden.

Bei der chronischen lymphatischen Leukämie gibt es im Gegensatz zur CML keine typische genetische Veränderung, die für die Erkrankung verantwortlich ist. Jedoch werden genetische Untersuchungen dazu genutzt, um den Verlauf der Krankheit abschätzen zu können. Die Therapie jedoch besteht im Wesentlichen darin, dass klassische Chemotherapeutika zusammen mit speziellen biotechnologisch hergestellten Antikörpern eingesetzt werden. Diese Antikörper verbessern die Wirksamkeit der Chemotherapie. Jedoch gibt es auch bei dieser Form der Leukämie Wirkstoffe, die in die Übertragung von Überlebenssignalen der CLL-Zellen eingreifen. „So ergeben sich für die Patienten weitere Möglichkeiten, da heute mehrere innovative und neue therapeutische Optionen zur Verfügung stehen“.

Häufig gilt das Prinzip "Abwarten und beobachten"

Heine betont aber auch, dass im Gegensatz zur CML bei der „chronischen lymphatischen Leukämie häufig auch das Prinzip “Watch and Wait„ angewendet wird. Dies bedeutet, dass Patienten zunächst nur alle drei bis sechs Monate kontrolliert werden und keine Medikamente erhalten müssen.“ Erst wenn die Symptomatik über einen bestimmten Punkt „hinausschießt“, wird die Behandlung eingeleitet. Nach einer erfolgreichen Therapie schließt sich in der Regel die Phase der Nachsorge in Abständen von drei bis sechs Monaten an.

Manchem Betroffenen dürfte bei einem Prinzip „Hinsehen und abwarten“ anfangs noch ein wenig unwohl sein, was Heine aus psychologischer Sicht durchaus nachvollziehen kann: „Eine sofortige Behandlung zeigt in dieser Gruppe aber keinen Überlebensvorteil. Und da jede Therapie ihre Nebenwirkungen hat, kann ein Abwarten und Beobachten für den Patienten die beste Möglichkeit sein: schonend und vorsichtig zugleich.“

Doch auch eine chronische Leukämie kann gefährlich werden. Vor allem die chronische lymphatische Form zeigt ein weites Spektrum von milden zu aggressiven Verlaufsformen. Die Prognose ist nicht so günstig, wenn ein Rückfall in einem Zeitraum von weniger als 24 Monaten auftritt oder wenn bestimmte genetische Veränderungen vorliegen – wenn durch den Bruch eines bestimmten Chromosoms ein schützendes Eiweiß nicht mehr gebildet werden kann.

Bei der chronischen myeloischen Leukämie kann es auf molekularer Ebene zu Resistenzen kommen, die eine Therapie erschweren. Unter Umständen kann eine Knochenmarkstransplantion nötig werden, um die Überlebenschancen zu erhöhen – auch wenn sie bei Patienten mit chronischer Leukämie eher als Ausnahme anzusehen ist.

Die Zahl der Patienten mit chronischen Leukämien wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten steigen – zum einen, weil die Menschen allgemein ein höheres Lebensalter erreichen und sich somit auch der Anteil der Erkrankten erhöht; aber zum anderen auch, weil die medikamentöse Therapie die Überlebensraten teils deutlich verbessert hat. „Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass die Medikamente unbedingt lebenslang eingenommen werden müssen“, so Wolf. „Ein Teil der CML-Patienten mit exzellentem Ansprechen kann den Signalhemmer im Rahmen von klinischen Studien für eine Weile oder vielleicht sogar dauerhaft absetzen.“

Gibt es dann doch einen Rückfall – die Quoten liegen bei rund 50 Prozent – kann wieder mit der Therapie begonnen werden, und die Patienten sprechen dann in der Regel wieder exzellent an. „Die Labordiagnostik ist inzwischen so exakt, dass wir einen Rückfall extrem früh erkennen.“ Die Voraussetzung dafür sind jedoch engmaschigere Kontrollen.

Wie eine Studie mit CML-Patienten gezeigt hat, sind sogar begleitende Erkrankungen wie Diabetes, die chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und Verengungen in den Herzkranzgefäßen oft viel belastender und riskanter als die chronische Leukämie selbst. Das bedeutet, dass ein besonderes Augenmerk auf das optimale Management begleitender Erkrankungen neben der CML-Behandlung ein langfristiges Überleben sichert.

Begleitend dazu empfehlen die Onkologen, sich durch moderaten Ausdauersport fit zu halten und auf eine ausgewogene und bewusste Ernährung zu achten – auch wenn bisher nicht gezeigt werden konnte, dass sich dadurch der Verlauf der chronischen Leukämie direkt beeinflussen lässt. Um eine chronische Leukämie zu erkennen, die sich oft über Jahre schleichend entwickelt, ist ein „großes Blutbild“ einmal pro Jahr sinnvoll – doch das gilt für Menschen ab Anfang/Mitte 40 sowieso.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort