Wahlkampf Buhlen um die Zweitstimme

BERLIN · Dreimal schiebt Rainer Brüderle sein Kinn vor, was seinem Gesicht einen kämpferischen Eindruck verleihen soll. Der Spitzenkandidat der FDP versucht wortreich - 19 Stunden nach Schließung der bayerischen Wahllokale - der Presse zu erklären, warum es zu dem Bayern-Desaster der Liberalen gekommen ist.

"In Bayern gehen die Uhren anders", hatte Parteichef Philipp Rösler zuvor als Begründung für das Ergebnis festgestellt. Rösler steht neben Brüderle. Wenn sie den Kopf etwas wenden, sehen sie ein teilweise neues Plakat. Es belegt, dass die FDP in den letzten sechs Tagen vor der Bundestagswahl voll auf einen Zweitstimmen-Wahlkampf setzt.

"Zweitstimme FDP - Jetzt geht es ums Ganze", heißt es auf dem Plakat, das die PR-Experten der Partei - folgt man Brüderle - schon seit einigen Tagen vorbereitet hatten. Der Druck ist vor allem dem Vorsitzenden deutlich anzumerken. Rösler soll sich schon vor dem Wahl-Sonntag abfällig über die Bemühungen des bayerischen Landesverbandes geäußert haben soll: Das Wort "Schlafwagen-Wahlkampf" soll gefallen sein.

Wie die interne Stimmungslage tatsächlich aussieht, dokumentiert eine Szene vor der Vorstandssitzung: Rösler überreicht der Landesvorsitzenden Sabine Leutheusser-Schnarrenberger einen gigantischen Blumenstrauß. Normalerweise ein Routine-Fototermin, der politische Zufriedenheit signalisiert. Die Parteispitze sieht aber so aus, als ob sie an einer Beerdigungsfeier teilnimmt.

Die Bundesjustizministerin hätte das Bukett vermutlich am liebsten in die Ecke geworfen. Sie weiß genau, dass sie für den Fall eines neuerlichen christlich-liberalen Bündnisses in Berlin um einen Kabinettsposten bangen muss. Sie hatte in den letzten Tagen intern Unverständnis geäußert, dass die FDP sich in der Koalitionsaussage wieder an die Unionsparteien "angekettet" habe.

Die Deutlichkeit der Zweitstimmen-Kampagne der FDP hat in der CDU-Parteizentrale viele überrascht. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe zog die Verteidigungslinie schon am Sonntagabend: "Zweitstimmen sind Merkel-Stimmen." Man habe keine Stimmen zu verschenken.

Mit Schrecken erinnert man sich im Adenauer-Haus an die Landtagswahl in Niedersachsen zu Jahresbeginn, als die empirisch damals kaum noch messbare FDP sich nach Hinweisen aus der CDU-Landesspitze zu einer Zweitstimmenkampagne auf fast zehn Prozent der Stimmen katapultierte. Negativer Randaspekt: Schwarz-Gelb verlor trotzdem die Regierungsmacht in Niedersachsen an Rot-Grün.

[kein Linktext vorhanden]Bei den Grünen paaren sich gelinde Enttäuschung über den Wahlausgang mit Entsetzen über Jürgen Trittin. Der Spitzenkandidat der Bündnis-Grünen, der in einer rot-grünen Koalition so gerne Finanzminister werden würde, hatte 1981 die presserechtliche Verantwortung für eine Wahlkampfpublikation einer alternativ-grünen Liste in Göttingen übernommen.

In dem Programm wird Straffreiheit für gewaltfreien Sex zwischen Erwachsenen und Kindern gefordert. Ko-Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt nahm den heute 59-Jährigen in Schutz, der den Vorgang inzwischen zerknirscht einräumte. Er habe das Wahlkampfpapier vorher nicht gelesen. Trittins Mit-Spitzenkandidatin stellte bündig fest: "Das ist eine Geschichte der Vergangenheit."

"Mehr war nicht drin", hieß es im Willy-Brandt-Haus einhellig. Grund zu feiern hatte man ja auch nicht so recht. Immerhin eine Steigerung um zwei Prozentpunkte. Während Kanzlerkandidat Peer Steinbrück schon wieder durch Deutschland tourt, machte sich Parteichef Sigmar Gabriel Gedanken für den Fall, dass die FDP den Wiedereinzug in den Bundestag nicht mehr schaffen würde: "Dann steigen die Chancen für Rot-Grün."

Um das vor dem Hintergrund des tatsächlichen Wahlergebnisses auszuloten, hat der Parteivorsitzende für die Nachwahl-Woche zu einem kleinen Parteitag nach Berlin geladen. 200 Delegierte werden daran teilnehmen. Da eine rot-grüne Koalition kaum eine Mehrheit finden dürfte, müssen sich die Funktionäre mit der heiklen Frage auseinandersetzen, ob man - wenn es denn von den Mehrheitsverhältnissen her möglich wird - die Linkspartei nicht doch direkt oder indirekt ins Regierungsboot holt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
FDP will pandemische Lage beenden
Gesetzliche Grundlage für Corona-Einschränkungen FDP will pandemische Lage beenden
Kampagnenstart ohne Kandidatin
Grüne stellen Wahlplakate vor Kampagnenstart ohne Kandidatin
Aus dem Ressort