Man muss abheben beim Spielen

Die französische Pianistin Hélène Grimaud, die am Sonntag in Bonn gastiert, kann Tonarten sehen und lebt mit wilden Wölfen - GA-Interview mit einer ungewöhnlichen Künstlerin

Bonn. Hélène Grimaud ist eine gefeierte Pianistin - und sie lebt mit wilden Wölfen, für die sie 1999 in der Nähe von New York das "Wolf Conservation Center" gründetet hat, zusammen. Am 2. Oktober spielt sie in Bonn zum Abschluss des Beethovenfests das 5. Klavierkonzert von Beethoven. Mit Hélène Grimaud sprach Dagmar Zurek.

General-Anzeiger: Frau Grimaud, welche Farbe hat eigentlich d-Moll?

Hélène Grimaud: Blau, tiefes blau!

GA: Was ist das für ein Gefühl, wenn man Töne nicht nur hören, sondern auch "sehen" kann?

Grimaud: Es ist einfach eine Sache, die passiert, und die keinen Einfluss auf die Musik hat. Musik hat Einfluss auf Farben, nicht umgekehrt. Komponisten wie Morton Feldman oder John Cage nutzen ihre synästhetischen Fähigkeiten auf ihre Weise für ihre Werke.

GA: Lenkt Sie diese Gabe beim Spielen eigentlich eher ab? Oder befähigt sie Sie, noch tiefer in die Musik einzudringen?

Grimaud: Ich werde nicht abgelenkt, weil diese Abläufe nicht bewusst, sondern eher auf einer unbewussten Ebene geschehen. Tatsache ist, dass diese Sinneswahrnehmung nun mal da ist. Und zwar lediglich als das "Nebenprodukt" eines erhöhten, veränderten Wahrnehmungsvermögens. Sie sind nicht immer da, aber wenn sie auftauchen, tragen sie nicht dazu bei, Musik in einem intensiveren oder lebhafteren Sinn zu erleben.

GA: Ihre zweite große Leidenschaft gilt der Aufzucht von Wölfen. Nervt es Sie, wenn Ihr Name zunächst im Zusammenhang mit Ihrem Engagement genannt wird, bevor es heißt: "Ist das nicht die Frau, die so toll Rachmaninow und Brahms spielt?"

Grimaud: Nein. Was zählt, ist doch nur, dass man die Menschen irgendwie an die Musik heranführt. Wenn die Leute sich erinnern: "Oh ja, das ist die Frau, die sich für den Umweltschutz engagiert, mit Tieren und so", dann ist das egal, solange sie auch in meine Konzerte kommen. Sollten Sie mich aber nur und ausschließlich mit Wölfen in Verbindung bringen, dann würde mich das schon stören. Aber es ist eigentlich egal, woran sich die Menschen zuerst erinnern, solange irgendwann dann das Gesamtbild der Person, um die es geht, wieder auftaucht.

GA: Sie haben zuletzt häufig Klaviermusik von Ludwig van Beethoven gespielt. Wie ungehemmt darf man in seiner Musik Rubato, jenes willkürliche Verzögern des Tempos, einsetzen?

Grimaud: Oh, das Rubato ist das Atmen der Musik. Beethovens Musik handelt von der Freiheit des menschlichen Geistes. Eine Sache aber, die man im Zusammenhang mit Beethoven nicht außer acht lassen darf, ist die Tatsache, dass die Instrumente, für die Beethoven seine Musik schrieb, viel weniger kraftvoll, viel weniger resonant waren als unsere heutigen Klaviere.

GA: Bedarf es eines alten Instruments, um Beethoven "authentisch" zu spielen?

Grimaud: Ich liebe es, manchmal auf dem Hammerklavier zu üben. Es ist faszinierend zu sehen, wie das Potenzial der heutigen Instrumente schon alleine in Bezug auf die Artikulation doch recht kontraproduktiv sein kann. Ein Hammerklavier bietet die Vorzüge des leichteren Anschlags, der gleichmäßigeren schnellen Läufe und eines schöneren, farbigeren Ausdrucks, da es nicht so "aktiv" ist wie die heutigen.

GA: Gibt es zuweilen Momente, da Sie sich in gewissen "schönen Stellen" verlieren können?

Grimaud: Beim Konzert vergesse ich alle mathemathischen Kompositionswege und "bin" einfach in der Musik drin. Wenn man während eines Konzerts Musik komplett auf die Ratio beschränkt, dann fehlt etwas. Man muss in seiner Interpretation "abheben" können, gleichsam diese Erde verlassen können.

GA: Sie sind Französin mit Vorliebe für deutsche Literatur der Romantik und leben in New York. Gibt es noch jenen spezifischen "nationalen" Stil in den Interpretationen einzelner Künstler?

Grimaud:Es gab zu allen Zeiten jene "nationale Schulen", die stilistisch wichtig waren für die Interpreten. Aber der persönliche Stil eines Pianisten ist viel wichtiger. Hören Sie sich doch nur einmal Emil Gilels und Artur Rubinstein an. Die unterscheiden sich so radikal voneinander, dass man nicht wirklich mehr von einer russischen Schule sprechen kann.

GA: Darf ein reproduzierender Künstler überhaupt so etwas wie einen ausgeprägten Personalstil entwickeln?

Grimaud: Wenn man zum ersten Mal als Interpret seine eigene Individualität erfährt, fühlt man sich wie losgelöst von allem. Es ist so, als wenn man durch einen See schwimmt. Eine Weile noch hat man das beruhigende Gefühl, dass man immer noch zurückkehren kann. Aber dann erreicht man die Zone, in der man fühlt, dass man nicht mehr umkehren kann, dass man weiterschwimmen muss oder untergehen wird.

GA: Das klingt gefährlich . . .

Grimaud: Aber die interessantesten Momente im Leben sind nun mal diejenigen, bei denen keine Rückkehr möglich ist. In Momenten der Gefahr formt sich der Charakter, man kommt der Wahrheit näher.

GA: Sie als Künstlerin haben vor Jahren das "rettende Ufer" erreicht, sind im Musikleben etabliert. Wie beurteilen Sie die neuen, jungen Pianistenkollegen?

Grimaud: Es gibt nichts Aufregenderes als einen jungen Musiker mit viel Potenzial. Es ist so aufregend, jemandem zuzuhören, der viel Talent und Leidenschaft hat für das, was er tut. Das ist sehr inspirierend, aber auch Angst einflößend, denn es kann so viel schief gehen. Ich denke, dass da die Lehrer, die Manager und die Familien der jungen Künstler eine große Verantwortung tragen.

GA: Machte Sie die Beschäftigung mit den Wölfen so weise? Was können wir Menschen von ihnen lernen?

Grimaud: Wir können von den Wölfen lernen, im Hier und Jetzt zu leben. Den Moment leben, anstatt uns immer wieder auf Vergangenes zu berufen oder unsere gesamten Gedanken auf die Zukunft zu projizieren - denn die Gegenwart ist alles, was wir haben. Wir könnten von den Wölfen lernen, in Harmonie mit unserer Umwelt zu leben, und unsere Bedürfnisse nach der Verfügbarkeit der Ressourcen richten, anstatt diese zu missbrauchen.

Abschlusskonzert des Beethovenfests am 2. Oktober, 20 Uhr, in der Beethovenhalle: Hélène Grimaud, Klavier; Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Dirigent: Ingo Metzmacher; Beethoven: Coriolan-Ouvertüre, Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll, Karl Amadeus Hartmann: 8. Symphonie (ausverkauft).

Weitere Informationen finden Sie in unserem Beethovenfest-Spezial.

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