Beethoven-Zyklus Der Wille zum Klang

Bonn · In einer opulenten CD/Blu-ray-Edition präsentieren Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmonikern Beethovens neun Sinfonien. Der verwegene Zugang des Dirigenten hebt sich von der Tradition Furtwänglers und Karajans ab.

 Mit Beethoven um die Welt: Sir Simon Rattle während eines Konzertes vor wenigen Tagen in Taipeh. FOTO: DPA

Mit Beethoven um die Welt: Sir Simon Rattle während eines Konzertes vor wenigen Tagen in Taipeh. FOTO: DPA

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Lange hat Sir Simon Rattle gewartet, bis er mit den Berliner Philharmonikern die neun Sinfonien Ludwig van Beethovens eingespielt hat. Dafür gab es gute Gründe. Denn als der Brite mit dem grauen Lockenschopf 2002 als Orchesterchef in die bundesdeutsche Hauptstadt kam, waren die Maschinen der CD-Fertigungsanlagen noch warm vom Beethoven-Zyklus seines Vorgängers Claudio Abbado. Zudem war Rattle gerade damit beschäftigt, den Zyklus der neun Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern zu erarbeiten. Das Ergebnis erschien dann im Frühjahr 2003 bei der EMI.

Seither sind nicht nur 13 Jahre vergangen, auch das Ende der Ära Rattle kommt in Berlin in Riesenschritten näher. 2018 gibt er den Stab an Kirill Petrenko weiter. Letzte Gelegenheit also für letzte Worte in Sachen Beethoven. Nach einem ersten Beethoven-Durchlauf im Jahre 2008 fiel im Oktober 2015 der Startschuss für ein groß angelegtes Projekt, das mit einer Aufführungsserie in der Berliner Philharmonie begann. An fünf Abenden führten die Philharmoniker die neun Sinfonien auf, die man sich auch in der Digital Concert Hall des Orchesters anschauen konnte (und kann). Es folgten Gastspiele in Paris, Wien, New York, Anfang Mai waren sie in Taipeh und seit dem vergangenen Sonntag wiederholen sie den kompletten Zyklus in Tokios Suntory Hall.

Gerade ist auch eine aufwendige Box erschienen, die nicht nur ein Kunstwerk ziert – Isa Genzkens Skulptur „Fenster“ –, sondern in ihrem edel grau gefärbten länglichen doppelten Format einer üblichen CD-Verpackung selbst fast schon ein Kunstwerk ist. Liebevoll untergebracht finden sich ein Booklet mit Beiträgen des Herausgebers der verwendeten Notenedition, Jonathan Del Mar, und des derzeit führenden Beethoven-Biographen Jan Caeyers sowie die Ton-Aufnahmen in verschiedenen medialen Erscheinungsformen. Die neun Sinfonien sind einmal auf fünf CDs verteilt, dann kann der Beethoven-Fan sich denselben Zyklus zusätzlich auf einer einzelnen Audio-Blu-ray anhören und, wenn er möchte, auf zwei Video-Blu-rays (plus Bonus-Material) anschauen. Wem das noch nicht ausreicht, kann darüber hinaus die Werke per mitgeliefertem Code downloaden.

Wütende Sforzati

Rattle hat die Berliner Philharmoniker medial ins 21. Jahrhundert geführt. Aber auch musikalisch wirkt die Aufnahme sehr zeitgemäß. Rattle zettelt keine Revolution an. Das haben andere vor ihm bereits erledigt. Der Brite baut auf Erkenntnissen aus der historischen Aufführungspraxis auf, hat mit Sicherheit John Eliot Gardiners auf alten Instrumenten erfolgte Einspielung zur Kenntnis genommen, vielleicht auch jene, die Paavo Järvi auf modernen Instrumenten mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen einspielte. Die noch sehr junge des Leipziger Gewandhausorchesters unter Leitung von Riccardo Chailly trägt ebenfalls verwandte Züge. Aber keine dieser Aufnahmen verbindet das herausfordernd Provokante und die Zartheit des C-Dur-Septim-Akkords zu Beginn der ersten Sinfonie mit solch klanglicher Raffinesse, wie es Rattle und den Berlinern gelingt. Dieser Beginn ist wie ein Motto für den gesamten Zyklus. Nicht nur in den langsamen Sätzen etwa der „Eroica“ oder der neunten Sinfonie wird die philharmonische Klangschönheit zelebriert, selbst in den von wütenden Sforzati aufgerauten Strecken der Fünften oder im Scherzo der Neunten oder in der fiebrigen rhythmischen Wildheit des Finales der siebten Sinfonie modulieren die Musiker noch präzise das gewünschte durchsichtige Klangbild. Dieser Wille zum Klang entfaltet sich am reinsten in den Naturschilderungen der sechsten Sinfonie. Das macht sie zum Höhepunkt des gesamten Zyklus.

Bei den Tempi hatte sich Rattle schon mit den Wienern an den extremen originalen Metronomangaben Beethovens orientiert, mit den Berlinern dirigiert er manche Sätze noch ein Quäntchen schneller. Die große Beethoven-Tradition Furtwänglers und Karajans ist zwar nicht zuletzt deshalb Geschichte, aber Rattles verwegener Zugang entfaltet einen Reiz, dem sich zu entziehen schwerfällt.

Ludwig van Beethoven: Symphonien 1-9. Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle (Dir.), Rundfunkchor Berlin, Solisten: Annette Dasch, Eva Vogel, Christian Elsner und Dmitry Ivashchenko. Zu beziehen im Internet unter shop.berliner-philharmoniker.de

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