Medizinische Versorgung in Bonn Die Kasse klingelt nur bei Privatpatienten

Bonn · Während privat Versicherte nach nur wenigen Tagen einen Termin beim Arzt bekommen, müssen gesetzlich Versicherte auch in Bonn oft lange darauf warten. Mediziner bestätigen, dass dahinter Methode steckt.

 Eine Ultraschall-Untersuchung in der frauenärztlichen Praxis von Nadja Linck in Bonn.

Eine Ultraschall-Untersuchung in der frauenärztlichen Praxis von Nadja Linck in Bonn.

Foto: Martin Wein

973 Ärztinnen und Ärzte praktizieren in Bonn außerhalb der Krankenhäuser und Versorgungszentren. Bei einem Facharzt einen Termin zu bekommen, ist trotzdem oft ein Geduldsspiel. Anfang August bittet eine Kollegin bei einem Hautarzt um einen Termin für ihren Sohn. Der dürfe gerne kommen, heißt es in der Praxis ihrer Wahl – aber erst Ende September. Die Kollegin hat eben aufgelegt als ihr einfällt: Der Junior ist über den Vater privat mitversichert. Ein zweiter Anruf bringt frohe Kunde: Nun öffnet sich ein Fenster schon in zehn Tagen.

Ein anekdotischer Einzelfall? Nein, sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Maria Klein-Schmeink. Im Frühjahr ließ sie ihre Mitarbeiter neben 360 anderen Praxen in NRW auch bei 45 zufällig ausgewählten Fachärzten in Bonn und im Rhein-Sieg-Kreis testweise Termine vereinbaren. Gaben sich die Anrufer als Beamte oder Gutverdiener in einer Privatkasse aus, durften sie nach acht Tagen kommen. Als Kassenpatienten mussten sie im Schnitt 44 Tage warten. Nur in Bielefeld war der Unterschied innerhalb von NRW noch sieben Tage größer.

Und warum dauert das so lange, wo doch in Bonn in vielen Fachrichtungen der Versorgungsgrad erheblich überschritten wird? Bei Hautärzten liegt er bei beispielsweise 152 Prozent, bei Radiologen sogar bei 188 und bei Psychotherapeuten bei 252 Prozent. Die Bedarfsplanung sei überholt, sagt dazu der Chef der für Bonn zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVN), Frank Bergmann, (siehe Interview unten). Die KVN legt fest, wie viele Ärzte in einem Gebiet jeweils eine Kassenzulassung erhalten. Außerdem seien die Menschen im Schnitt älter und damit kränker und jeder wolle heute gleich zum Facharzt.

15 Minuten Zeit pro Untersuchung

Nadja Linck ist seit 2015 als Frauenärztin in Poppelsdorf tätig, seit Anfang des Jahres führt sie die Praxis alleine. Ein durchschnittlicher Dienstag Ende August bringt 20 Patientinnen auf ihren Behandlungsstuhl. 1000 sind es im Quartal. Eine Viertelstunde kalkuliert die Gynäkologin für jede Untersuchung. Nebenbei macht sie sich Notizen, tippt die Abrechnungsziffern in den PC. „Jede Patientin hat auch eine Geschichte“, sagt Linck.

Da sei es nicht immer einfach, allen gerecht zu werden. 18 Euro kann die Medizinerin den gesetzlichen Krankenversicherungen für die Vorsorgeuntersuchung in Rechnung stellen, 16 Euro für eine gewöhnliche Ordination. Kommen die Frauen mehrfach im gleichen Quartal ohne neue Befunde, bekommt sie nichts extra. Denn abgerechnet wird nach sogenannten Fallpauschalen. Jeder Fall wird pauschal abgegolten, egal wie groß oder klein der Aufwand ist.

Ganz anders bei Privatversicherten: „Da wird jede erbrachte Leistung abgerechnet, egal wie oft die Damen kommen“, erklärt Linck. Und manche Leistung wie die Untersuchung mit dem Ultraschallgerät wird bei der jährlichen Vorsorge überhaupt nur für Privatpatientinnen erstattet. „Natürlich freue ich mich da, wenn Privatversicherte kommen“, sagt Linck. Und das, zumal der Honorarsatz 2,2- bis in Extremfällen 3,7-fach über dem Kassensatz liegt.

Trotzdem macht die Frauenärztin wie ihre Vorgängerin bei der Terminvergabe eigentlich keine Unterschiede. „Meine Mitarbeiterinnen sind angewiesen, beim ersten Anruf nicht nach der Kasse zu fragen“, sagt sie. In den meisten Fällen spiele die Wartezeit ohnehin keine Rolle, da die Mehrzahl Stammpatientinnen seien und über ein Recall-System etwa ein Vierteljahr vor ihrem jährlichen Vorsorgetermin um Terminabsprache gebeten würden.

Nur am Quartalsende müssten nicht so eilige Fälle dann gelegentlich doch bis ins neue Quartal warten, wenn sie schon einmal da waren. „Das macht man bei Privatversicherten nicht“, sagt Linck, die übrigens selbst gesetzlich versichert ist.

Optimierung nach System

Diese Optimierung der Patiententermine nach finanziellen Gesichtspunkten habe System, sagt ein Bonner Insider des Medizinbetriebs. Wegen seiner herausragenden Stellung in der Arztausbildung möchte er sich nicht namentlich äußern. Das System funktioniere so: Jede Praxis bekommt von der KVN ein jährliches Punktebudget, gegliedert in vier Quartale und berechnet nach dem Bedarf der Vorjahre.

Dieses Budget kann der Arzt verteilen, bei dem einen mehr machen, bei dem anderen weniger. Doch ist es erschöpft oder überschritten, bekommt er für die Mehrarbeit nichts mehr.

„Die volle Punktezahl teilt man durch die Zahl der Patienten. Dann ist klar, wie viel Zeit für jeden Patienten bleibt. Entsprechend werden Termine vergeben. Die Lücken füllt man mit Notfällen, Privatversicherten und Selbstzahlern“, sagt der Mediziner. So bleibt der maximal mögliche Ertrag bei optimaler Behandlungseffizienz. Kostendämpfung nennen das Gesundheitspolitiker. Betriebswirtschaft nennt es der Mediziner – und die sei in vielen Fällen ethisch fragwürdig.

Schlecht leben die Mediziner im Schnitt nicht damit. Nach einer aktuellen Erhebung des Statistischen Bundesamtes lag ihr Reinertrag vor Steuern 2015 im Schnitt bei 258 000 Euro. Psychotherapeuten, Frauenärzte und Hausärzte liegen mit 66 000 beziehungsweise 217 000 und 227 000 Euro darunter, Augenärzte oder Radiologen mit 350 000 beziehungsweise 373 000 Euro deutlich darüber. Dabei sind die Kosten für Personal, Miete und Technik schon abgezogen.

Doch nur mit Kassenpatienten ist dieser Ertrag unmöglich. Elf Prozent Privatversicherte bringen den Ärzten bundesweit ein Viertel ihrer Einnahmen. Von einem „Geschäft mit Verzweiflung“, spricht der Experte. Wie Vampire würden manche Kollegen den Patienten Blut abzapften. „Da werden Infusionen gelegt, obwohl Tropfen dieselbe Wirkung hätten. Da wird ein Ganzkörper-MRT angeboten, das Kassenpatienten nur bei ganz seltenen Tumoren angeboten wird.“

Es würden 30 Körperwerte bestimmt, von denen allein statistisch gesehen mindestens vier außerhalb der Norm liegen müssten. „Die werden dann medikamentös behandelt. Aber gesünder wird man davon nicht.“ Und das alles nicht, weil es nötig sei, sondern lukrativ. Auch Medizintouristen als Selbstzahler seien natürlich willkommen. Schließlich müssten die teuren Geräte ausgelastet werden.

Patienten geben sich nicht so leicht zufrieden

Und die Patienten? „Die wollen das“, sagt der Insider. Mit einer herkömmlichen Untersuchung gäben sich viele nicht zufrieden, wollten immer einen Laborbefund, einen Herzkatheter oder eine Computertomographie. Und auf Kosten der Privatkassen oder selbst bezahlt – diese vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen als nicht medizinisch notwendig eingestuften Zusatzleistungen seien der „Turbo für das Arztgehalt“ – Nebenwirkungen wie unnötige Röntgenstrahlung inklusive.

Beileibe nicht alle Mediziner gehen so vor. Die Bonner Stichprobe ergab auch: Ein Drittel der Fachärzte machte gar keinen Unterschied zwischen privat und gesetzlich Versicherten. Doch wenn es um das heikle Thema geht, lassen die Mediziner insgesamt viele Fragen unbeantwortet und zeigen wenig Auskunftsfreude. Auch zur Vorbereitung dieses Berichtes blieben viele Gesprächsanfragen unbeantwortet oder vereinbarte Gespräche wurden wieder abgesagt.

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