Flüchtlingskrise in der EU Der Gipfel der Drohungen

Brüssel · Die "Bombe" war sozusagen schon hochgegangen, bevor die 28 Staats- und Regierungschefs der EU gestern überhaupt in Brüssel zusammengetroffen waren. Ausgerechnet Werner Faymann, der sozialdemokratische Bundeskanzler aus Österreich, der sonst zu den eher Stillen im Kreis der Staatenlenker gehört, hatte seinem Ärger über mangelnde Solidarität in der EU Luft gemacht und denen, die keine Asylbewerber aufnehmen wollen, offen gedroht.

 Das Bild von einer auseinandergerissenen Flüchtlingsfamilie hat das Kinderhilfswerk Unicef zum Bild des Jahres gewählt. Der EU-Gipfel befasste sich gestern unter anderem mit dem Flüchtlingselend.

Das Bild von einer auseinandergerissenen Flüchtlingsfamilie hat das Kinderhilfswerk Unicef zum Bild des Jahres gewählt. Der EU-Gipfel befasste sich gestern unter anderem mit dem Flüchtlingselend.

Foto: dpa

"Wer unterm Strich mehr Geld aus dem EU-Haushalt erhält, als er einzahlt, sollte sich bei der fairen Verteilung der Flüchtlinge nicht einfach wegducken", sagte er. Die Botschaft war unmissverständlich: Die Alpenrepublik erwägt, ihre Beiträge für die EU zu kürzen, da das Geld denen zugutekommt, die eine Verteilung blockieren.

Schon am Morgen hatte der Wiener Regierungschef die Spitzenvertreter von Luxemburg, Griechenland, Schweden, Belgien, Finnland, Slowenien, Portugal, Frankreich und Deutschland in der österreichischen Vertretung bei der EU zusammengeholt. Alle übrigen Staats- und Regierungschefs waren zwar eingeladen, erschienen aber nicht. Der "Club der Willigen" (Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker) kam schnell zur Sache: Um Ankara zu weiterer Zusammenarbeit zu bewegen, versprach man dem eingeladenen Gast aus Ankara, Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, weitere Flüchtlinge aufzunehmen - auf freiwilliger Basis. Deutlicher konnte man den Riss, der die Gemeinschaft entzweit, wohl kaum dokumentieren.

Dabei durften die am Nachmittag schließlich vollzählig versammelten Chefs sogar schwarz auf weiß nachlesen, dass sich die Zusammenarbeit mit dem so oft kritisierten Partner am Bosporus offenbar lohnt. Anfang Dezember kamen nur noch 3731 Flüchtlinge pro Tag an den EU-Grenzen an - im September und Oktober sogar 6970 binnen 24 Stunden. In dieser Woche waren es gerade mal 2000 am Tag. Diese Zahlen stammen aus einem Sachstandsbericht, der dem EU-Gipfel in Brüssel vorgelegt wurde. Er enthält auch Angaben der türkischen Grenz- und Küstenwache, die seit dem 1. Dezember 4632 Asylbewerber an der Reise nach Europa gehindert haben will, seit Jahresanfang habe man sogar 85 842 Menschen gestoppt. Ein Silberstreif am Horizont?

Zumindest seien die Angaben für das Treffen "eine Ermutigung", hieß es am Abend aus diplomatischen Kreisen. "Der Trend muss weitergehen." Doch das "Wie" blieb auch gestern umstritten. Der Vorschlag der Europäischen Kommission, die eigenen Außengrenzen durch eine Spezialtruppe der Grenzschutzpolizei Frontex überwachen zu lassen - notfalls sogar gegen den Willen eines Mitgliedstaates -, stieß zwar auf "Interesse" (Griechenlands Premier Alexis Tsipras), aber auch auf "große Skepsis" (Ungarns Regierungschef Viktor Orbán). Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte, Deutschland "unterstützt das Vorhaben". Bedenken, hier würden EU-Mitgliedstaaten möglicherweise entmachtet, wollten die Befürworter in Brüssel nicht gelten lassen.

Wer bei diesem x-ten EU-Gipfel zur Flüchtlingsproblematik so etwas wie einen Durchbruch erwartet hatte, wurde schnell enttäuscht. Man bilanzierte und diskutierte, vor allem aber gab es viel Kopfschütteln, weil praktisch alle beschlossenen Instrumente stumpf blieben. Die bis zur Ermüdung gepriesenen Hotspots (Registrierzentren) sind immer noch nicht alle in Betrieb. Die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen aus italienischen und griechischen Lagern stagniert - bisher wurden ganze 200 in die EU-Staaten verteilt. Und die Liste ließe sich fortsetzen. "So geht das nicht weiter", ärgerte sich Parlamentschef Martin Schulz. Aber mehr als der übliche Appell für Solidarität und die bekannten Warnungen vor einem Auseinanderdriften der Union fielen ihm auch nicht ein.

So blieb die Drohung des österreichischen Bundeskanzlers das deutlichste Zeichen dafür, wo die EU Ende 2015 steht: "Ich habe eine solche Krise in meinen 24 Jahren als Abgeordneter noch nicht erlebt", betonte Schulz. Und dabei sprach er nicht von den Flüchtlingsdramen, sondern von dem Tiefpunkt, den die Gemeinschaft erreicht habe.

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